Dienstag, 21. Dezember 2010

PID und Abtreibung

Seit Monaten tobt ein erbitterter Kampf um die Zulassung der sogenannten PID, der Präimplantationsdiagnostik. Es geht um die gesetzliche Erlaubnis, bei der künstlichen Befruchtung erbkranke Embyonen auszusortieren und zu vernichten, damit die betroffenen Eltern die Chance auf ein gesundes Kind bekommen.

Von rechts bis links gibt es entschiedene Gegner, und man argumentiert beispielsweise so:
"Jedes menschliche Leben enthält an sich und in sich bereits seinen vollen, unverfügbaren und eigenständigen Wert", oder: "eine Gesellschaft, in der der Staat darüber entscheidet oder andere darüber entscheiden läßt, welches Leben gelebt werden darf und welches nicht, verliert ihre Menschlichkeit".

Schöne Sätze.

Ich frage mich, warum diese schönen Sätze nicht gültig sein sollen bei der in Deutschland seit Jahrzehnten gesetzlich legitimierten Abtreibungspraxis , durch die Jahr für Jahr hundertausende gesunder Föten, die ebenso wie die PID-Embryonen ihren "vollen, unverfügbaren und eigenständigen Wert" haben, getötet werden. Und zwar nicht etwa, weil sie erbkrank sind, sondern weil sie angeblich nicht in eine Lebensplanung hineinpassen.

Wenn Politikerinnen wie Andrea Nahles und Angela Merkel, die beide Gegnerinnen der PID sind, ehrlich wären, müßten sie zugeben, daß diese unsere Gesellschaft, die Jahr für Jahr die Tötung gesunden Lebens zuläßt, in der Tat schon längst ihre Menschlichkeit verloren hat.
Solange bei der Diskussion um die Zulassung der PID die Abtreibung ausgeblendet wird, solange ist diese Diskussion schizophren und das Papier nicht wert, auf dem sie dokumentiert wird.

Freitag, 17. Dezember 2010

Unsere Besten

Florian Henckel von Donnersmarck hat einen neuen Film gemacht, der jetzt in die Kinos kommt, und deshalb gibt es viele schöne Interviews in vielen Zeitungen zu lesen. Ein besonders schönes sei hier empfohlen, es stand vorige Woche im SZ-Magazin, und es dürfte, sofern man es in angemessen getragenem Ton rezitiert, auf jeder Silvesterparty der Knaller sein.
Am schönsten in diesem Interview ist eine wahre Geschichte, die der Donnersmarck-Nachfahre als Illustration für seine zuvor aufgestellt Behauptung ins Feld führt, daß es einen adeligen Ehrenkodex gibt, bzw. Dinge, die ein Donnersmarck NIE tun würde.

Protagonist dieser wahren Geschichte ist der Sohn eines Neffen eines entfernten Onkels - "aber den kannten wir gar nicht" -, den der entfernte Onkel dummerweise in sehr vorgerücktem Alter adoptierte. Und dieser Sohn des Neffen des Onkels, "dieser adoptierte Junge", hat etwas "wirklich wahnsinnig Unangenehmes" gemacht. Als Adoptivsohn hatte er auch einen Teil des Goethe-Nachlasses geerbt, der an die Familie derer von Donnersmarck gefallen war und den die Familie in eine Stiftung überführt hatte. Jaja, so macht man das in adligen Kreisen! Denn: "Ein Goethe-Erbe, das gehört einem nicht."
Dieser dahergelaufene Sohn des ohnehin schon sehr entfernten Neffen aber wagte es, 39 Goethezeichnungen aus der Stiftung auszuleihen und ins Ausland zu verkaufen!
"UNFASSBAR", ruft Henckel von Donnersmarck aus in diesem Interview!

So also benehmen sich nichtadlige Menschen! Die man eben besser nicht kennen sollte!

Nein, wir doofen Normalmenschen, wir haben sie nicht, die adlige Moral und den adligen Ehrenkodex. Wir würden doch alle - geben wir es zu - sofort, wenn wir die Gelegenheit dazu hätten, alles ins Ausland verscherbeln, was uns an nationalem Erbe in die Finger fiele.
So ist es ausgesprochen stärkend für unsere bröcklige Moral, wenn wir hin und wieder markige Donnerworte unserer Besten hören, die uns klarmachen, wie man zu handeln hat.

Erfreulich, daß der Adel, der überwiegend aus dem Raubrittertum entstand oder aus Adelsstand-Erhebungen aufgrund politischer Gefälligkeiten, im Lauf der Jahrhunderte sich zur Creme der Nation emporentwickelt hat.
Und so freut es uns auch zu lesen, daß der gute Mensch Florian Henckel von Donnersmarck auch ein besonders glücklicher Mensch ist, der von sich sagen kann: "Vielleicht hat es noch nie in der Geschichte der Menschheit (!) irgendjemand besser gehabt als ich."

Montag, 25. Oktober 2010

Laßt uns agamben

Kürzlich las ich in einer Buchrezension (Johan Schloemann in der SZ vom 22.10.2010) das folgende Zitat:
"Die Pornographie, die ihr eigenes Phantasma als unerreichbar bewahrt und es mit derselben Geste unansehbar nahe rückt, ist die eschatologische Form der Parodie."
Dieser Satz stammt aus dem neuen Buch eines italienischen Philosophen namens Giorgio Agamben, der, wie ich der Rezension entnahm, im heutigen Kunst- und Kulturbetrieb, beispielsweise bei clownesken Wirrköpfen wie René Pollesch, äußerst beliebt ist und gern zitiert wird. Die Thesen des italienischen Philosophen mit dem schönen Namen, der wie ein rätselhaftes deutsches Verb klingt, sind eher uninteressant und letztlich Quatsch (er behauptet, daß in der modernen Demokratie in deren angeblich zentralen Bewertung der öffentlichen Meinung und des politischen Consensus das Erbe der ursprünglich religiös fundierten "Macht und Herrlichkeit" präsent ist), aber die Begriffsverwurstung, die er in dem zitierten Satz anstellt, ist doch einfach wunderbar.
Wäre es nicht ein tolles Gesellschaftsspiel, aus modischen Begriffen ähnliche Nonsens-Sätze zu bilden?
Etwa so: "Dem narrativen Bewußtsein schwindelt es immer schon vor dem Faszinosum des hermetisch versiegelten Obszönen, das den utopischen Konsens jeglicher Selbstvergewisserung stets von Neuem unterläuft." Klingt doch gut, ist aber der schiere, blanke Blödsinn - frisch von mir aus dem Handgelenk geschüttelt.
Man könnte auch einige Begriffshülsen aus Agambens Zitat nehmen und neu zusammenmixen, z.B.: "Die pornographische Geste parodiert die unerreichbare Nähe der Eschatologie und bewahrt sie als Unansehbares."

Ich schlage vor, dieses Spiel "agamben" zu nennen. Laßt uns also agamben - ich bin für entsprechende Sätze dankbar und prämiere die lustigste Einsendung mit einer Einladung zu einem Cappuccino.

Dienstag, 28. September 2010

Kommt Kunst von Können?

Aus Anlaß einer Werbeaktion der "Welt" zum 20-jährigen Jubiläum der Wiedervereinigung, bei der der Maler Georg Baselitz eine komplette Ausgabe gestalten soll, brachte die "Wams" ("Welt am Sonntag" vom 26.9.2010) ein Interview mit Baselitz, das auch in gekürzter Form als Film ins Netz gestellt wurde.
In diesem Film sieht man einen grobschlächtigen, sattgesichtigen alten Mann mit den leicht herabgezogenen Mundwinkeln eines Erfolgreichen, der insgeheim denkt "ihr könnt mich mal alle, denn ich bin reich", wie er einen seiner hinlänglich bekannten Adler mit plumpen Federstrichen auf eine Leinwand krakelt, wie er Farbe über eine Ausgabe der "Welt" fließen läßt, und wie er über sich und Deutschland bzw. deutsche Kultur spricht. Es ist bemerkenswert, mit welcher Unverfrorenheit Baselitz, den die "Welt" (und mit ihr die gesamte Kunstszene) für einen "großen Künstler" hält, allem und jedem aufs Haupt schlägt. Da werden Günter Grass und Martin Walser als Deppen charakterisiert, die nur Karriere machen konnten, weil "jeder, der was im Kopf hatte" weg gewesen sei nach dem Krieg, da wird das Regietheater in Bausch und Bogen verdammt, da wird von den Verlagen behauptet, daß sie die deutschen Leser mit "Unlesbarem" quälten. Zur Politik fällt ihm im wesentlichen nur ein, daß er - als Großverdiener, der er ist - die Partei wählt, die Steuererleichterungen verspricht.
Nun gut.
Ein Maler soll nicht reden, sondern malen, und wenn er redet, muß man das nicht unbedingt ernst nehmen. Hauptsache, er macht gute Kunst. Aber ach! Was ist denn gute Kunst, heutzutage? Baselitz, der reich und berühmt geworden ist durch den Trick, daß er seine konventionell frühexpressionistisch hingehauenen Bilder (vergleichbar schlechtem Lovis Corinth, epigonal verflacht) auf den Kopf gestellt hat, definiert seine eigene Kunst als "Schweinerei" - etwas, das keiner brauche und keiner wolle, aber das "vielleicht wichtig" sei. Ferner bezeichnet er seine Kunst als "brutal" und rechtfertigt dies damit, daß Deutschland "brutal" sei. Seine Malaktion für die "Welt", bei der er keinesfalls "illustrieren" wolle, sondern Bilder vorhat, die sich in keiner Weise auf den Text beziehen, bezeichnet er als "Musik": das sei, wie wenn man Musik sichtbar machen wolle.
Da paßt es dann gut, wenn man von Leuten, die heutzutage das Sagen haben bezüglich dessen, was "gute Kunst" sein soll, in einem weiteren Artikel der "Welt", der vor ein paar Wochen erschien, einige interessante Äußerungen findet. Es handelt sich um eine Umfrage bei wichtigen Kunstkennern (Werner Spies, Eduard Beaucamp, Udo Kittelmann, Holger Liebs u.a.m.), die sich zu Günter Grass als Künstler äußern sollten. Das Grass-Bashing, das man da lesen kann, ist in seiner Einstimmigkeit relativ erschreckend und brutal, dabei widersprüchlich. Mal wird Grass fehlende Präzision vorgeworfen, mal wird ihm sein Realismus vorgehalten, der nämlich nicht die "Brüchigkeit" der Gesellschaft wiedergebe. Erhellend sind im übrigen die Nebenbemerkungen über andere zeitgenössische Künstler. Um nur zwei herauszugreifen: Horst Janssen, einer der wenigen wirklich genialen Könner in der deutschen Kunst des späten 20. Jahrhunderts, wird als "einförmiger Richtigzeichner" gegenüber dem als "genialer Illustrator und Künstler" bezeichneten Tomi Ungerer abqualifiziert - eine groteske Verkehrung der wahren Qualität dieser beiden Maler, und Cy Twombly mit seinen vollgekrakelten Riesenbildern ist wieder einmal das ganz große Genie.
Keiner dieser Kunstkenner, die sich tagaus tagein mit dem Kunstschaffen vergangener und heutiger Zeiten beschäftigen, hat auch nur den geringsten Schimmer davon, daß es jemandem, der malen kann, auch einfach Spaß macht, etwas abzubilden, sich in den Gegenstand zeichnend zu versenken, dem Gegenstand durch das verächtlich als "Kläubeln" bezeichnete Heraus-arbeiten seiner Strukturen eine eigene Aura der Dauer zu verleihen. Selbstverständlich muß das Ergebnis solcher Versenkung nicht "gute Kunst" sein - daß Grass, um einem solchen Anspruch gerecht zuwerden, möglicherweise technisch nicht gut genug ist, möglicherweise auch einen uninteressanten Strich hat, das mag ja alles sein. Aber die Häme, die hier über ihn ausgeschüttet wird, hat er nicht verdient.
Wie weit entfernt sind sowohl Baselitz' malerische und verbale Grobheiten als auch die komplette Beliebigkeit maßgeblicher Kunstexpertise von dem, was Kunst eigentlich sein sollte. Welche Lichtjahre liegen zwischen diesem Schlamm und der Definition von Kunst, die Leszek Kolakowski, der große polnische Dichter-Philosoph, in seinem fulminanten Essay "Die Gegenwärtigkeit des Mythos" formuliert hat:
"...Es gibt keine, und sei es die flüchtigste Qualität meines Welterlebens, die in der Kunst nicht als herausfordernde, weil fixierte Namengebung des Seins erstarren könnte. Das Kunstwerk ist allein durch sein Währen grenzenlos parteiisch, sofern es jeweils jede andere Möglichkeit der Seinsbenennung ausschließt. Doch es ist in dieser Intoleranz stets die Hoffnung enthalten, daß mein parteiisches Erleben sich in einen Wert zu verwandeln vermag, den ich in der Bewegung der eigenen Initiative der herkömmlichen Welt entgegenstellen kann. Damit diese Hoffnung wahrhaft in Erscheinung teten kann, muß sich mein Kunstverständnis, und ebenso das Kunstschaffen, auf die mythenbildende Kraft berufen, die ich in mir trage, denn nur dank dieser Kraft nehme ich mir den Mut, die eigene Organisation der Welt als ein aus inkongruenten und zerstrittenen Wertqualitäten zusammengesetzte auszusprechen."
P.S. vom Mittwoch, 29. September
In der heutigen SZ findet sich ein Interview mit der Kuratorin der Documenta 13, Carolyn Christov-Bakargiev, bei dessen Lektüre man froh darüber wird, daß es noch Maler wie Baselitz gibt, die wenigstens malen, auch wenn die Qualität ihrer Bilder diskussionswürdig ist.
Frau Bakargiev strebt nämlich eine "De-Anthropozentrierung" an, da der Mensch nicht mehr wichtig sei; ergo ist auch Kunst nicht mehr wichtig, und wenn man von ihr ablenkt, "tut man der Menschheit etwas Gutes. Oder wenigstens den Pflanzen und Tieren." Da flattern dann noch ein paar modische Begriffe wie "Narration", "Addition sehr intensiver Momente", "konzeptuell" herum, und man pflanzt einen Baum neben eine Skulptur, über den sich dann "Menschen wundern" sollen. Kunst gibt es nicht mehr. Sie ist alles, und damit nichts.

Freitag, 14. Mai 2010

Humboldt und Kunth, und wie sich ihre Ururur-Enkel begegneten

Wer Wilhelm von Humboldt war, ist bekannt. Daß seine direkten Nachkommen immer noch im Humboldtschen Stammsitz, dem Schloß Tegel, wohnen, wissen nicht allzu viele. Aber daß es dort ein Familiengrab der Humboldts und eine Grabstätte ihres prominenten Erziehers Gottlob Johann Christian Kunth gibt, das wußte meine Cousine Monika, geb. Kunth, die von Vancouver in Kanada zu Besuch kam, um die Stadt ihrer Vorväter und vor allem auch das Grab ihres Ururur-Großvaters zu besuchen.
So betraten wir also an einem kühlen Mainachmittag den als "Privatbesitz" gekennzeichneten Park, der dennoch anscheinend betreten werden durfte, da ein zweites Schild darauf verwies, daß ein solches Tun "wegen Astbruch auf eigene Gefahr" erfolge. Zunächst frohgemut wanderten wir durch den Wald, der sich an der langen Schloßwiese hinzog, und erreichten schließlich einen Abhang, von dem aus die Familiengrabstätte am Ende der Wiese sichtbar wurde. Die rechteckigen Gräber zu Füßen einer von einer Statue gekrönten Säule, recht ehrfurchtgebietend mit all den klangvollen Namen auf den Grabsteinen, lagen einsam unter dem wolkigen Abendhimmel, wir umrundeten sie und schauten in alle Ecken, doch Gottlob Johann Christian Kunth war ganz eindeutig hier nicht bestattet. So lenkten wir unsere Schritte auf einer stattlichen, mit hellgrünem Frühlingslaub prunkenden Buchenallee zurück zum Schloß - wer weiß, vielleicht war der Vorfahre, der so lange der Humboldtschen Familie gedient, die Witwe beraten, das Familienvermögen verwaltet, den Park entworfen hatte, in der Nähe des Schlößchens begraben worden?
Aber ca. fünfzig Meter vom Schloß entfernt gebot uns eine Kette mit dem Schild "Kein Zutritt" Halt. Was nun? Sollte Monika - die so bald nicht wieder aus Kanada nach Berlin-Tegel kommen würde - unverrichteter Dinge wieder zurück nach Vancouver fliegen, oder konnten, durften wir ausnahmsweise ein kleines Schild ignorieren?
Das Schloß lag so ruhig da, keine Menschenseele weit und breit, zwar ein paar Gartenstühle draußen auf der Terrasse, aber sonst nichts. Wir schlichen um die Kette herum und näherten uns dem weißen Gebäude, suchten im Gebüsch am Rand der Terrasse und auf einem von Bäumen und Gesträuch umfriedeten Platz nach dem Grabstein, fotografierten ein paar undefinierbare Mauerreste - und da erschien plötzlich ein großer weißhaariger Mann, angetan mit einem wehenden schwarzen Mantel, gestikulierend und unübersehbar sehr böse. Und er sah exakt aus wie ein von den Toten wieder auferstandener, etwas in die Jahre gekommener Wilhelm von Humboldt; das gleiche distinguiert-strenge Gesicht mit der langen Oberlippe und den großen, schräg abfallenden Augen, das gleiche länglich zurückweichende Kinn, die schmalen Schläfen, der magere, intellektuelle Habitus.
"Respektieren Sie bitte die Privatsphäre und entfernen Sie sich umgehend!" befahl er, und es klang sehr wütend.
Monika indessen entfernte sich nicht, sie näherte sich dem zornigen Schloßherrn, der sie mit dem Ruf "Weg, gehen Sie, weg!" vergeblich zu verscheuchen suchte, und erklärte, daß sie eine Nachfahrin von Kunth sei und dessen Grabstätte besuchen wolle und daß sie extra aus Kanada hergekommen sei. Nun wurde der abweisende, schwarzbemantelte Mensch eine winzige Spur freundlicher - was nicht besagen soll, daß er freundlich geworden wäre - und wedelte mit der Hand unbestimmt in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Dort hinten rechts, am Abhang, dort sei das gesuchte Grabmal, und warum wir nicht an der Tür geklingelt hätten. Mit wehendem Mantel entschwand er, und wir zockelten den weiten Weg wieder zurück, gingen an der Familiengrabstätte den Abhang hinauf und entdeckten nun endlich auch einen Weg, der uns - heureka - zur Kunthschen Grabstätte führte.
Später, im Internet, sah ich, was ohnehin klar war: daß in der Person von Monika und der Person des Schloßherrn (eines Rechtsanwalts und Notars namens Ulrich von Heinz) sich die beiden Ururur-Enkel Humboldts und seines Erziehers Kunth auf dem Boden, der die beiden Urahnen in gemeinsamer Tätigkeit erlebt hatte, begegnet waren. Und ich stelle mir vor, was die beiden Urahnen, wenn sie dieses seltsame, fast absurde Rencontre von irgendeinem Himmel aus hätten beobachten können, wohl dazu gesagt hätten:

Kunth: "Sieh an, mein werther Humboldt, da trifft Euer Ururur-Enkel auf meine Ururur-Enkelin, auf dem Boden des Schlosses, das uns in so schönen gemeinsamen Jahren vereinte, in dem Park, den ich seinerzeit mit frohem Sinn und penibler Genauigkeit zum Ergötzen Seiner Eltern gestaltet habe. Doch kann ich nicht verhehlen, daß mir die dem Privatissimum der Familie geschuldete, dennoch wenig elegante Facon, mit der Euer Nachfahr meine Nachfahrin abwies, den recht unangenehmen Eindruck einer nervösen Überreizung vermittelt hat. Ein wenig leutselige Heiterkeit, gutmütige Hinwendung hätte Eurem Nachfahren weitaus besser zu Gesicht gestanden, wenn Ihr mir diesen kleinen Tadel gestatten wollet."
Humboldt: "Gewiß, mein lieber Kunth, dem kann und will ich nicht widersprechen, doch bedenket, daß der Pöbel, der zu unseren Lebzeiten noch zu manierlicher Zurückhaltung angehalten wurde, sich heute überall breitmachet und, neben anderen impertinenten Belästigungen, täuschend echte Abbildungen, man nennet sie Fotografie, von allem und jedem, so auch den privaten Gemächern meines Nachfahrn, anfertiget, die für Geld allüberall feilgehalten werden. Verständlich also auch für Euch, den überaus geschätzten Erzieher meiner Jugendjahre, die harsche Abwehr meines Nachfahrn."
Kunth: "Sei dem, wie es wolle, gleichwohl empfinde ich schmerzliches Bedauern ob der leichthin vertanen Gelegenheit geselligen Austauschs. Welch reizendes Gespräch hätten unsere Nachfahren führen können, gebildet und kunstverständig, wie beide sind! Meine Nachfahrin hat, wie ich höre, ein kluges, Geist und Auge ergötzendes Buch über einen Bildhauer ihrer zweiten Heimat Kanada geschrieben, eine ferne Gegend übrigens, die zu sehen weder meinem weitgereisten Bruder noch mir je vergönnet war..."
Und so weiter. Wer weiß, was die Geister der Verstorbenen in den Blättern der alten Humboldteiche gewispert haben, während die Spätgeborenen fremd unter einem matten Frühlingshimmel sich begegneten und sekundenschnell wieder auseinanderstrebten, fröstelnd vor dem unmerklichen Hauch vergangenen Lebens.

Montag, 19. April 2010

Matthäuspassion

Wie fast jedes Jahr, sind wir zusammen mit Clara auch diesmal am Karfreitag in die Matthäuspassion gegangen. Eine mittelmäßige Aufführung im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie, bei der dennoch die grandiose Musik über die Schwächen der Darbietung triumphierte.

Clara, in ihrer unmittelbar erlebenden Art, kommentierte dieses Erlebnis mit zwei den Kern treffenden Sätzen.

"Ich dachte, alles ist vergänglich", sagte sie, und als sie am nächsten Tag zu Hause noch einmal in unsere CD-Aufnahme hineinhörte, sagte sie beim Schlußchor: "Wenn ich sterbe, möchte ich diese Musik hören."

Montag, 1. März 2010

Alles klar, Herr Wissmann

In einem Interview der "Süddeutschen Zeitung" von heute mit dem früheren Verkehrsminister und jetzigen VDA-Präsidenten Matthias Wissmann wurde dieser, als Haupt-Lobbyist der Autobranche, um eine Stellungnahme zur Kritik am Lobbyismus gebeten.

SZ: Spätestens seit der Hotel-Affäre der FDP ist klar, daß der Einfluß der Lobbyisten in Berlin zu groß ist.
Wissmann: Wir als VDA setzen auf überzeugende Argumente. Man hat in der Krise mehr als vorher gemerkt, wie sehr man einander braucht. Wichtig ist Transparenz: Man kann nicht mehreren Herren gleichzeitig dienen.

Muß man ja auch nicht, wenn man Verkehrsminister hat, die nach ihrem Ausscheiden Autobranchen-Lobbyist werden. Wir warten nun darauf, daß irgendein Lobbyist aus der Pharmabranche Gesundheitsminister wird, damit dort endlich mal ein bißchen Transparenz einzieht.

Donnerstag, 11. Februar 2010

Clara hat Liebeskummer

Clara ist traurig. Martin, der Zivi, wird in zwei Wochen gehen, und in Martin ist sie verliebt - auf ihre unschuldige, kindliche Art, Dialoge zwischen Martin und seiner Freundin Jenny erfindend, mit genußvollen Seufzern "Hach Martin", über die sie selbst lacht, mit umfassender Begeisterung, wenn er zugegen ist in der Wohngruppe.
Meistens ist Clara fröhlich, überströmend fröhlich sogar. Sie kann sich über Kleinigkeiten so freuen, daß man selbst gleichfalls gute Laune kriegt. Das Glück des kleinen Augenblicks, das genießt sie mehr, als wir es je können würden, weil sie sich ganz dem Moment, dem Augenblick hingeben kann, ohne an gestern und morgen zu denken.
Aber wenn dann das Morgen doch einmal hineingreift in den Augenblick, wie jetzt, da sie weiß, daß Martin geht, wird sie empfindsam, nachdenklich, melancholisch.

Und ich frage mich wieder einmal, warum das Schicksal, bzw. "Gott" oder bloßer, hirnloser Zufall dieses Mädchen so getroffen hat. Ich habe nicht den Trost des Gebets - "hallo, Gott, du hast da was falsch gemacht, kannst du das jetzt bitte korrigieren" - oder des selbstanklägerischen Tue-Buße-Deals mit diesem strafenden und belohnenden Gott mancher frommen Kirchgänger, die meinen, durch drei Rosenkränze, fünf Lourdes-Wässerchen und diverse Fastenkuren Gott ein Opfer oder eine Vorleistung zu geben, die er dann wunschgemäß belohnen muß.
Nirgendwo übrigens habe ich mehr Lieblosigkeit und Mißtrauen gegenüber meiner behinderten Tochter erlebt als in konservativen kirchlichen Kreisen. Da steckt in den Köpfen die abergläubische Furcht, daß ein Behinderter ein "von Gott Gestrafter", wenn nicht gar ein "vom Teufel Besessener" sein müsse, oder daß er die "Strafe" für irgendein unaussprechliches sündhaftes Vergehen der Eltern sei. Daß man ihn einfach so, als den Menschen, der er ist, akzeptieren oder gar lieben könnte, das will erst recht nicht in diese verhärteten Köpfe und Herzen hinein. Nein, da muß der Krankensegen her, da muß man nach Lourdes fahren, da sollte man zu diesem und jenem "gnadenreichen" Ort reisen, an dem Sankt Placebo wundersame Heilungen vollbrachte. Es ist schier unglaublich, mit welch dreisten Zudringlichkeiten man seinerzeit Clara und mir zu nahe trat. Übrigens ein Grund für meinen Mann und mich (nicht der einzige), uns endgültig von der Kirche in allen ihren Ausprägungsformen, samt ihren dubiosen "Tröstungen", abzuwenden.

Was bleibt zu tun? Trösten, aber mit Liebe und Phantasie; den Blick nach vorn richten, auf alles Schöne, das Clara zugänglich ist; Möglichkeiten zu Erlebnissen schaffen, die ihre Seele mit Glück und Begeisterung erfüllen. Konkret: kleine Reisen, die unsere Knochen noch mitmachen, Wochenendausflüge, Konzerte, Theater, Kino, Gäste.

Ja, das ist anstrengend, ja, es macht Arbeit; ja, man möchte hin und wieder sorglos faulenzen. Aber es kommt auch zurück, das Glück und die Begeisterung, die Claras süßes Gesicht verklären und ihre blauen Augen strahlen lassen.