Samstag, 24. November 2012

Kinderdepots mit Qualitätssiegel



Vor wenigen Wochen habe ich in diesem Blog zur Debatte um das Betreuungsgeld und zur Problematik früher „Fremdbetreuung“ Stellung genommen. Diese  Diskussion nimmt kein Ende, sondern zeitigt im Gegenteil immer groteskere Formen.
Nachdem Herr Trittin und andere Volksvertreter im Bundestag unwidersprochen ihre Verachtung für Mütter demonstrieren durften, die nach der Geburt ihr kleines Kind selbst betreuen, statt sich umgehend  wieder in den Arbeitsprozess zurückzubegeben, hat sich jüngst ein veritabler Experte, nämlich der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Professor Jörg M. Fegert, zu Wort gemeldet (FAZ vom 17.11.2012).
Die eine ganze Zeitungsseite einnehmenden Erörterungen des Professors tragen den listig doppeldeutigen Titel „Qualität – in jeder Beziehung“.
Schon die eingangs aufgestellte These, dass diese Debatte nicht ohne die Geschichte der deutschen Teilung verstanden werden könne, ist nicht überzeugend. Die Forderungen politischer und anderer Meinungsträger nach flächendeckender und frühzeitiger Fremdbetreuung in Krippen und Kitas, die zur Zeit weitgehend die Debatte bestimmen, sind kein Echo auf die seinerzeitige kollektive Kinderfremdbetreuung der DDR.
Sie sind vielmehr in der Dominanz ökonomischer Interessen zu suchen, für die es nicht tolerierbar ist, dass mit der Gruppe der jungen Mütter, sofern diese  eine längere Kinderpause machen, ein relativ hoher Prozentsatz der arbeitsfähigen Bevölkerung dem geldwerten Arbeitsprozess entzogen ist.
Fegert geht erst gar nicht so weit, diese Grundlage der Debatte in den Blick zu nehmen, geschweige ihre Berechtigung in Zweifel zu ziehen. Zwar konzediert er immer wieder, dass die für die weitere Entwicklung eines Kindes eminent wichtige „Bindungssicherheit“ nur durch frühe und stabile Bindung des kleinen Kindes an eine oder wenige Bezugspersonen entsteht, er zieht aber aus dieser Erkenntnis nicht die Konsequenz, dass für Kleinstkinder die beste und natürlichste Form der Kinderbetreuung eben nicht Fremdbetreuung, sondern die elterliche Zuwendung und Fürsorge wäre. Der gesamte Artikel krankt an dem Widerspruch zwischen dieser  Erkenntnis und der von Fegert  nicht grundsätzlich hinterfragten Forderung nach Fremdbetreuung.
Dieser Widerspruch wird nicht gelöst. Fegert nimmt stattdessen Zuflucht zu der mit bombastischem technokratischem Vokabular vorgetragenen Forderung nach umfassender Aufrüstung und „Qualitätssicherung“ der Krippen und Kitas (in Michael Endes „Momo“, der klarsichtigen Vision einer technokratischen Welt, heißen diese „pädagogisch wertvollen“ Anstalten „Kinderdepots“). Da ist die Rede von „qualitativ hochwertigen Beziehungsangeboten“, von „grundlegenden Qualitätsparametern“, von der „Qualität des kognitiv und sozial entwicklungsanregenden Angebots und des kleinkindpädagogischen Gesamtkonzepts“, und der Notwendigkeit der „Qualitätssicherung“, die durch „Qualitätsmanagement“, Prüfung der „Prozessqualität“ und der „Ergebnisqualität“ erreichbar sei. Fegert orientiert sich dabei an Amerika, wo der Ausbau von Kleinkindbetreuung wissenschaflich begleitet worden ist.
(Nebenbei bemerkt, ist seine idealisierende Deutung des Begriffs „child care“ schlicht und einfach falsch; in diesem Begriff ist nicht etwa das „fürsorgliche Beziehungselement“ enthalten, das „für gelingende Betreuung …unabdingbar ist“, vielmehr wird der Begriff „care“ im Englischen geradezu inflationär für alles und jedes benutzt, das gepflegt werden soll (man denke an „skin care“). Ob die wissenschaftliche Begleitung des institutionellen „Child Care“-Ausbaus in den USA das Heil gebracht hat oder bringen wird, verrät uns Fegert übrigens nicht.)
 Abgesehen davon, dass eine solch wundersame Verbesserung der frühkindlichen Fremdbetreuung, wie sie sich Fegert von der wissenschaftlichen Qualitätskontrolle erhofft, vollkommen utopisch wäre, ist sein Vokabular verräterisch. Es verwundert nicht weiter, dass ein Autor, der eine solche Begrifflichkeit verwendet, die biologische Grundlage der Mutter-Kind-Beziehung als „nicht primär“ bezeichnet, ohne dass er merkt, dass seine Begründung – der Verweis auf die historischen Formen menschlichen Zusammenlebens in Gruppen oder Großfamilien - kein biologisches, sondern ein soziologisches Argument ist. Der Mensch ist biologisch gesehen ein Säugetier, und in dieser Klasse ist die Mutter-Kind-Bindung im Prozess des Säugens sowohl biologisch fundiert wie lebensichernd. Dass diese Bindung auch in den oben genannten Großfamilien- oder sonstigen Gruppierungen als die primäre zu sehen ist, dürfte evident sein, ebenso evident wie die Tatsache, dass sie nicht durch noch so hochwertige Bildungs-, Bindungs- und entwicklungsanregende „Angebote“ ersetzt werden kann.
Wenn es als Ausnahme von dieser biologischen Regel hin und wieder Mütter gibt (und die gibt es auch im Tierreich), die ihrem natürlichen Mutterinstinkt nicht nachkommen können oder wollen, so setzt dies die Regel nicht als solche außer Kraft.
Im übrigen muss, sofern man die positive Lebensform der Großfamilie als rechtfertigendes Argument für Kitas und Krippen ins Feld führt, bedacht werden, dass eine Großfamilie, mit den überwiegend erwachsenen Bezugspersonen und im Alter differenzierten, wenigen weiteren Kindern, für ein kleines Kind ein Umfeld ist, das sich fundamental von einer Kita unterscheidet, in der wenige Erwachsene eine große Anzahl von gleichaltrigen Kleinkindern betreuen.
Es ist der Grundfehler sozialistisch geprägten Denkens, die negative (und bedauernswerte) Ausnahme zur  normierenden Kraft oder gar Legitimation für einschneidende Eingriffe in bewährte soziale Systeme zu erheben – hier also für an die Substanz der Familie und der Mutter-Kind-Beziehung rührende Eingriffe in das System Familie auf der Basis einer inzwischen offenkundigen Abwertung der Familie und der Rolle der Mutter.
Herr Trittin und andere, die lauthals die Abschaffung der  Familie betreiben, sollten zur Kenntnis nehmen, dass beispielsweise in Israel die Experimente der nichtfamiliären Erziehung im Kibbuz längst wieder aufgegeben wurden  und selbst die Sowjetunion wieder zur traditionellen Form der Kinderaufzucht in der Familie zurückgekehrt ist.
Was not täte: Ein Umdenken in der Bewertung der Mutter-Kind-Beziehung und der Leistung von Müttern sowie  die entsprechende Unterstützung junger Mütter im häuslichen Umfeld und  die Entwicklung von Arbeits- und Fortbildungsmodellen, die den Frauen eine problemlose Rückkehr in ihren Beruf auch nach einer längeren Kinderpause ermöglichen würden. Und was noch wesentlicher wäre: wir müßten zu einer Kinderfreundlichkeit zurückfinden, wie sie früher  immer selbstverständlich war. Eine Gesellschaft, in der seit Legalisierung der Abtreibung über fünf Millionen Kinder abgetrieben worden sind, wird auch weiterhin die Rechte der Kinder zugunsten ökonomischer Interessen ignorieren.
Kinder sind unsere Zuk,unft, und sie haben, trotz aller  „qualitativ hochwertigsten Beziehungsangebote“ in Kitas und Krippen mit den von Fegert gewünschten „feinfühligen“ Erziehern ein Recht auf die Bindungssicherheit, die sie durch die mütterliche Liebe erfahren. Es ist wohl kein Zufall, dass das Wort „Liebe“ in Fegerts Artikel nicht vorkommt.