Donnerstag, 23. Mai 2013

Baselitz und Kandinsky



Gestern wagte Julia Voss in der FAZ einen kritischen Artikel über einen Großfürsten der deutschen Gegenwartsmalerei, Georg Baselitz (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/das-phaenomen-georg-baselitz-am-ende-der-schlachten-12189033.html). Sie zeigte mit großer Genauigkeit und Schärfe, dass Baselitz seine Stilisierung als Außenseiter von Anfang an mit List und Geschäftssinn aufgebaut und sich zugleich sehr komfortabel im Kunstestablishment eingerichtet hat.
Julia Voss unterließ es allerdings, nach dem künstlerischen Wert der Werke zu fragen bzw. ihn  in Frage zu stellen, vielleicht wohlweislich, da dies dann eben doch zu viel des Kratzens an der bislang unhinterfragten Bedeutung dieses Malers wäre, zumal es unter den betuchteren Lesern der F.A.Z. mit Sicherheit einige geben dürfte, die einen Baselitz über dem Sofa oder als Leihgabe in einem Museum hängen haben.
Ich meine allerdings, dass es höchste Zeit wäre, nachzuprüfen, was denn nun eigentlich so bemerkenswert sein soll an den Gemälden von Georg Baselitz, alias Hans-Georg Kern, geboren in Deutschbaselitz in der Oberlausitz.
Das Erkennungsmerkmal von Baselitz ist allgemein bekannt: Er dreht seine gegenständlichen Bilder auf den Kopf. Er selbst hat einmal dazu bemerkt, dass ihm dies erlaube, weiterhin das zu malen, was ansonsten „verboten“ sei. Mit anderen Worten, er „darf“ weiterhin gegenständlich malen, weil der Gegenstand bei ihm durch das Auf-den-Kopf-Stellen des Bildes angeblich verfremdet wird, bzw. die sogenannten Sehgewohnheiten des Betrachters irritiert werden. Julia Voss zitiert in diesem Zusammenhang eine Äußerung von Werner Hofmann (ehemaliger Hamburger Kunsthallendirektor), der Baselitz’ Kunstgriff mit Kandinskys Entdeckung der abstrakten Kunst vergleicht.
Es ist aber ein fundamentaler Unterschied, ob man, wie Kandinsky, entdeckt, dass ein Bild ohne den Gegenstand eigene ästhetische Qualitäten hat, die, von den Vorprägungen und Konnotationen des Gegenstands befreit, ein künstlerisches Eigenleben entwickeln, oder ob man wie Baselitz den Gegenstand beibehält und einfach nur dadurch verfremdet, dass man ihn auf den Kopf stellt. Durch diesen Trick entsteht nämlich keineswegs eine neue ästhetische Qualität; vielmehr bleibt ja der Gegenstand als solcher erhalten und erkennbar und verhindert, dass das Bild unabhängig von ihm als abstraktes Gefüge mit einer eigenen Struktur erscheint.
Das ursprünglich eventuell sogar mit „malerischem Auge“ konzipierte Gemälde wird durch den billigen Gag des Auf-den-Kopf-Stellens verhöhnt und zerstört, es wird aber nichts Neues an seine Stelle gesetzt. Werner Hofmanns Vergleich mit Kandinsky, der seine abstrakten Gemälden sehr bewußt und genau komponierte, hinkt also ganz gewaltig und ist im übrigen eine Beleidigung von Kandinskys großartiger Begabung.
Immerhin würde ich Baselitz zwar zubilligen, dass er seine Bilder, bevor er sie auf den Kopf dreht – denn das muss er ja nun einmal, es ist sein Markenzeichen – mit einer gewissen Lust am Malen und einiger Verve auf die Leinwand streicht; der Stil seiner Malerei muss indessen allen Betrachtern, die den deutschen Expressionismus von Lovis Corinth bis Beckmann und Kokoschka kennen, alles andere als originell erscheinen.
Hinzu kommt die ermüdende Einfallslosigkeit und Eintönigkeit von Baselitz’ Kunst. Über Jahre und Jahrzehnte malt er nun schon immer das Gleiche – hässliche Männer mit riesigem Phallus, hässliche nackte Frauen, hässliche Köpfe, immer mal wieder in etwas anderen Farben und Formaten, aber immer mit dem gleichen rohen Farbauftrag und der zur Pose verkommenen Spontaneität eines  in die Jahre gekommenen spätexpressionistischen Epigonen.
Nur am Rande sei noch bemerkt, dass dieser höchst durchschnittliche Großfürst der Gegenwartskunst sonnig behauptet, Frauen malten nunmal nicht so gut, dass sei ein "Fakt".

Freitag, 17. Mai 2013

Was ist individuell an der Individualprophylaxe beim Zahnarzt?

Haben Sie Probleme mit ihren Zähnen? Dann machen Sie doch einfach mal eine "Individualprophylaxe" bei ihrem Zahnarzt. Die wird nämlich von der Krankenkasse bezahlt, im Gegensatz zu einer professionellen Zahnreinigung. Diese ist neuerdings besonders teuer, wenn Sie  noch viele Zähne Ihr eigen nennen  - früher mußte man nur die  Arbeitszeit  des Zahntechnikers bezahlen, heute wird der Tarif nach der Anzahl Ihrer Zähne berechnet; Sie werden also quasi dafür bestraft, dass Sie aufgrund guter Pflege noch ein intaktes Gebiss besitzen.
Aber das nur am Rande. Mir geht es heute um die  sogenannte Individualprophylaxe als eine Vorbeugungsmaßnahme, die von der Kasse schwerbehinderten Patienten als  Alternative  zur professionellen Zahnreinigung angedient wird. Hintergrund: Ich hatte für meine motorisch schwerstbehinderte Tochter  Clara bei der DAK einen Antrag auf Kostenerstattung der einmal jährlich durchgeführten professionellen Zahnreinigung gestellt, der abgelehnt wurde. Als Begründung für die Ablehnung verwies man mich auf die "Individualprophylaxe beim Zahnarzt".
Diese Individualprophylaxe nun ist so absurd, dass ich mir den folgenden Kommentar an die DAK gestattet habe:


Sehr geehrte Damen und Herren,

[....] die sogenannte Individualprophylaxe  beim Zahnarzt, die mir am Telefon als  Alternative zur professionellen Zahnreinigung vorgeschlagen worden war und von der DAK  einmal jährlich bezahlt wird, [...] enthält die folgenden Punkte

1)      den Befund des Zahnfleisches
2)      die Aufklärung über Krankheitsursachen und ihre Vermeidung
3)      das Erstellen von diagnostischen Vergleichen zur Mundhygiene, zum Zustand des Zahnfleisches und zur Anfälligkeit gegenüber Karieserkrankungen
4)      die Motivation und Einweisung bei der Mundpflege.

Ich lasse, wenngleich ungern, dahingestellt, ob diese Maßnahmen bei einem gesunden, nicht behinderten Patienten ebenso sinnvoll wären wie eine professionelle Zahnreinigung, geschweige ob sie einen Kariesbefall des Gebisses ebenso effektiv verhindern könnten. Es dürfte aber evident sein, auch für Mitarbeiter der DAK, dass alle diese - vielleicht ja gutgemeinten – Aufklärungsmaßnahmen bei einem schwerbehinderten Patienten, der seine Hände nicht benutzen kann, dermaßen hirnverbrannt sinnlos sind, dass man sie ohne Übertreibung als Realsatire bezeichnen kann. Dies trifft im übrigen keinswegs nur auf Körperbehinderte zu, sondern auch auf Menschen mit geistiger  Behinderung.

Was soll meine Tochter mit dem „Befund des Zahnfleisches“ denn anfangen? Soll sie ergeben nicken, wenn der Zahnarzt ihr mitteilt, dass ihr Zahnfleisch optimal/suboptimal/behandlungsbedürftig sei? Hilft ihr diese Mitteilung bei aktiver Prophylaxe, die sie aufgrund ihrer Behinderung nicht durchführen kann?

Und was nützt ihr die - noch so eloquente -Aufklärung über  „Krankheitsursachen und ihre Vermeidung“? Soll sie das nächstemal, wenn ihr ein Stück Kuchen von einer Freundin angeboten wird, sagen, dass sie dies  nicht wolle, da es ihrer Zahngesundheit nicht zuträglich sei? Sie wird auch trotz noch so intensiver Aufklärung über die Vermeidung von zahnschädigenden Nahrungsmitteln nicht selbst ihre Zähne nach einer „süßen Sünde“  reinigen können.

Vollends absurd wird dieser fabelhafte Leistungskatalog  bei Punkt drei. Das Erstellen von „diagnostischen Vergleichen zur Mundhygiene“ etc.pp. klingt zwar bombastisch und beeindruckt möglicherweise Dr. Lieschen Müller; es verleiht jedoch dem motorisch oder geistig behinderten Patienten mitnichten irgendwelche wundersamen Fähigkeiten, die ihn in den Stand setzen würden, aktiv Mundhygiene zu betreiben.

Punkt vier liefert  dann mit der „Motivation und Einweisung bei der Mundpflege“ die nicht mehr steigerungsfähige Apotheose der Absurdität. Ich wäre gern persönlich dabei anwesend, wenn ein  - natürlich „hochmotivierter“ - Zahnarzt versucht, meine Tochter, die zu 100% motorisch behindert ist, zum Zähneputzen zu „motivieren“ und sie bei der „Mundpflege“ „einzuweisen“. Es wäre, abgesehen davon, dass meine Tochter (die allerdings glücklicherweise sehr viel Humor besitzt) derlei Zumutungen auch als zynisch oder degradierend empfinden könnte, eine hochkomische Szene, die man filmen und bei Youtube veröffentlichen sollte.

ES ist grotesk, dass die DAK diese ganze Prozedur namens „Individual-Prophylaxe“ mit dem Zusatz „Individual“ kennzeichnet. Was, bitteschön, ist denn individuell an dieser Prophylaxe, wenn individuelle gesundheitliche Grundvoraussetzungen des Patienten, wie eine  schwere Körperbehinderung, nicht berücksichtigt werden?

Man sollte in der Tat – und das meine ich nicht ironisch -  diese superbe „Individualprophylaxe“, die sich vermutlich ein weltfremder Marketing-Experte ausgedacht hat, einmal mit  einem Zahnarzt und einem schwer motorisch oder geistig behinderten Patienten filmen, um die ganze Absurdität und die  hanebüchene Beschränktheit, um nicht zu sagen, den blanken Zynismus solcher Vorschläge  in Hinblick auf Schwerbehinderte bloßzustellen.

Fazit: Das Geld, das für die komplett sinnlose „Individualprophylaxe“ ausgegeben wird, könnte man sparen und sinnvoll für eine professionelle Zahnreinigung als Kassenleistung für Schwerbehinderte einsetzen. Da es sich hier um einen keineswegs unüberschaubar großen Personenkreis handelt, wären die Kosten von jeweils ca. 65  Euro pro Patient mit Sicherheit nicht so exorbitant, dass sie den gut gefüllten Geldtopf der gesetzlichen Krankenkassen in unverantwortlicher Weise leeren würden. Es wäre eine Maßnahme, die ganz real die Zahngesundheit von Behinderten verbessern und belastende komplexe Zahnbehandlungen mit erheblichem Kostenfaktor wirksam reduzieren würde.

Es ist weder  verstehbar noch rational erklärbar, wieso die Krankenkassen hier nicht ein für allemal nachbessern und warum Anträge wie der von mir seinerzeit gestellte auf Kostenübernahme der Zahnreinigung nicht bewilligt werden. Wo liegen also die Gründe für diese Politik?

Ich vermute, dass es zum einen am behindertenfeindlichen Klima der Bundesrepublik Deutschland liegt, in der behinderte Föten noch bis kurz vor der Geburt abgetrieben werden dürfen. Leider haben Behinderte in unserem Land keine wirkmächtige Lobby und keine prominenten Fürsprecher.

Zum anderen ist hier die nur noch an den Kosten orientierte Politik der Krankenkassen zu nennen. Nicht die medizinische Effektivität einer Behandlung ist entscheidend, sondern deren Kostenintensität. Und die  Messlatte für die „Kostenintensität“ liegt eben bei Behinderten, die ja unverschämterweise ohnehin schon hohe Kosten machen, für  alle nicht dringend erforderlichen medizinischen Leistungen sehr niedrig.

Ich frage mich, ob es noch Entscheidungsträger im Gesundheitswesen gibt, die bereit  wären, hier etwas zu ändern.

Mit freundlichen Grüßen
***