Donnerstag, 18. Oktober 2012

Paralympics und Inklusion



Vor wenigen Wochen wurden in London die „Paralympics“ gefeiert, und die Wettkämpfe der Körperbehinderten begeisterten wie nie zuvor ein riesiges Publikum. Dürfen wir uns also freuen, dass Behinderte quasi in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen sind, dass sie trotz ihrer Behinderung genauso  oder  fast noch  mehr gefeiert werden wie die sportliche Spitzenprominenz? Hat eine neue Kultur des verständnis- und respektvollen Zusammenlebens in einer schönen neuen Welt der angstfreien und großzügigen Inklusion begonnen?

Zu schön, um wahr zu sein? In der Tat. Zur gleichen Zeit, da diese Paralympics scheinbar die wunderbare Akzeptiertheit von Behinderten in unserer Gesellschaft bewiesen, wurde in Deutschland der Bluttest zur pränatalen Diagnostik der Trisomie 21 (Down-Syndrom) zugelassen. Dieser Test ermöglicht es schwangeren Frauen, schnell und risikofrei Gewissheit darüber zu erlangen, ob ihr  Kind an Down-Syndrom leidet, so dass sie genügend Zeit für die Entscheidung gegen dieses Kind und eine Abtreibung haben.

Mir ist nicht bekannt, ob bei den Paralympics auch Sportler mit Down-Syndrom teilgenommen haben. Ich weiß allerdings, dass die überwiegende Mehrzahl der behinderten Sportler Körperbehinderte sind, die aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit Gliedmaßen, Gehör oder Augenlicht verloren haben.
Dass ein solcher Körperbehinderter die Leistungsfähigkeit seiner Physis austesten will und dass Menschen die Willenskraft, mit  der solche Leistungen hervorgebracht werden, bewundern, ist verständlich.
Man muss sich aber auch darüber klar sein, dass Leistungssport von Behinderten demselben Leistungsdenken gehorcht, das unsere gesamte moderne Welt prägt und das mit seiner darwinistischen Selektion der Stärksten dem Ziel einer umfassenden Akzeptanz Behinderter diametral entgegengesetzt ist. So wird im Behindertensport die Chance nicht wahrgenommen, aus dem Faktum des Behindertseins die Abkehr vom Leistungsdenken hin zu einer neuen Lebensorientierung zu vollziehen. 
Deshalb  ist auch die Begeisterung für die Paralympics keineswegs der eingangs beschworene Ausdruck einer neuen Humanität. Diese Begeisterung gehorcht einfach nur dem Leistungsdenken und dem Rekordwahn des normalen Sports und vermischt sich mit der ohne große Mühe zu erzeugenden Toleranz gegenüber Körperbehinderung. Denn von allen Behinderungsformen ist die Körperbehinderung diejenige, die die kleinsten Akzeptanzprobleme mit sich bringt. Eine körperliche Behinderung ist im Grunde nichts, das den Betroffenen fremd erscheinen läßt – ein physischer Defekt, der keine oder wenig  Auswirkung auf Psyche und Verhalten hat und den der „normale“ Gesunde ohne weiteres verstehen kann.
Alle anderen Behinderungen, vor allem diejenigen, die angeboren sind, gehören zu einer komplett anderen Kategorie. Sie betreffen den ganzen Menschen, seine Sprache, sein Verhalten, sein Aussehen, und machen ihn so in den Augen Gesunder, die zumeist nichts wissen von solchen Behinderungen, zu etwas, das fremd, unverständlich, merkwürdig oder gar unheimlich  erscheint. Das Fremde aber, das man nicht versteht, wird abgelehnt.
So ist es logisch, dass gleichzeitig mit den Paralympics und der zur Schau gestellten Toleranz gegenüber körperbehinderten Sportlern der Bluttest auf Down-Syndrom in Deutschland zugelassen wurde. Und es ist ferner konsequent, dass die sozialen Leistungen für Behinderte immer weiter abgebaut werden (neuestes Beispiel: die bisherige Gebührenbefreiung Schwerbehinderter für Rundfunk und Fernsehen wird jetzt abgeschafft; älteres Beispiel: schon seit längerem werden einkommenslose Behinderte an den Zuzahlungen zu Kassenleistungen beteiligt).

Körperbehinderte Sportler, die dem gleichen Leistungsdenken huldigen wie alle? „Ja gern.“

Geistig Behinderte, die „anders“ sind, die niemals etwas leisten, etwas haben, etwas darstellen werden, und die darüber hinaus im Bildungssystem enorme Kosten verursachen? „Nein danke.“

Dass dennoch die vielgepriesene „Inklusion“ an Regelschulen zaghaft angefangen hat, wäre eigentlich ein positives Zeichen. Denn nur mit der frühzeitigen Integration behinderter Kinder ließe sich die Fremdheit und die Scheu gegenüber nicht nur körperlich Behinderten abbauen, und mehr noch, bestünde die Chance für die gesunden Kinder, den Reichtum an Lebensfreude und an  Liebe zum Leben, den schwerbehinderte Menschen so oft haben, kennen und lieben zu lernen.
Soll die Inklusion an Schulen aber gelingen, wird sie Geld kosten, sehr viel Geld; nur mit gutem Willen ist es hier nicht getan. Man braucht Sonderschullehrer, Therapeuten, Therapieräume, Pfleger und Betreuer, und das sind dauerhafte Kosten in gewaltiger Höhe, die unser Staat aufzubringen nicht bereit sein wird. Dieser Staat baut im Gegenteil die Sozialleistungen für Behinderte ab und  erleichtert die Abtreibung behinderter Kinder.

Solange dies so ist, wird es in Deutschland keine echte Inklusion geben.