Freitag, 14. Mai 2010

Humboldt und Kunth, und wie sich ihre Ururur-Enkel begegneten

Wer Wilhelm von Humboldt war, ist bekannt. Daß seine direkten Nachkommen immer noch im Humboldtschen Stammsitz, dem Schloß Tegel, wohnen, wissen nicht allzu viele. Aber daß es dort ein Familiengrab der Humboldts und eine Grabstätte ihres prominenten Erziehers Gottlob Johann Christian Kunth gibt, das wußte meine Cousine Monika, geb. Kunth, die von Vancouver in Kanada zu Besuch kam, um die Stadt ihrer Vorväter und vor allem auch das Grab ihres Ururur-Großvaters zu besuchen.
So betraten wir also an einem kühlen Mainachmittag den als "Privatbesitz" gekennzeichneten Park, der dennoch anscheinend betreten werden durfte, da ein zweites Schild darauf verwies, daß ein solches Tun "wegen Astbruch auf eigene Gefahr" erfolge. Zunächst frohgemut wanderten wir durch den Wald, der sich an der langen Schloßwiese hinzog, und erreichten schließlich einen Abhang, von dem aus die Familiengrabstätte am Ende der Wiese sichtbar wurde. Die rechteckigen Gräber zu Füßen einer von einer Statue gekrönten Säule, recht ehrfurchtgebietend mit all den klangvollen Namen auf den Grabsteinen, lagen einsam unter dem wolkigen Abendhimmel, wir umrundeten sie und schauten in alle Ecken, doch Gottlob Johann Christian Kunth war ganz eindeutig hier nicht bestattet. So lenkten wir unsere Schritte auf einer stattlichen, mit hellgrünem Frühlingslaub prunkenden Buchenallee zurück zum Schloß - wer weiß, vielleicht war der Vorfahre, der so lange der Humboldtschen Familie gedient, die Witwe beraten, das Familienvermögen verwaltet, den Park entworfen hatte, in der Nähe des Schlößchens begraben worden?
Aber ca. fünfzig Meter vom Schloß entfernt gebot uns eine Kette mit dem Schild "Kein Zutritt" Halt. Was nun? Sollte Monika - die so bald nicht wieder aus Kanada nach Berlin-Tegel kommen würde - unverrichteter Dinge wieder zurück nach Vancouver fliegen, oder konnten, durften wir ausnahmsweise ein kleines Schild ignorieren?
Das Schloß lag so ruhig da, keine Menschenseele weit und breit, zwar ein paar Gartenstühle draußen auf der Terrasse, aber sonst nichts. Wir schlichen um die Kette herum und näherten uns dem weißen Gebäude, suchten im Gebüsch am Rand der Terrasse und auf einem von Bäumen und Gesträuch umfriedeten Platz nach dem Grabstein, fotografierten ein paar undefinierbare Mauerreste - und da erschien plötzlich ein großer weißhaariger Mann, angetan mit einem wehenden schwarzen Mantel, gestikulierend und unübersehbar sehr böse. Und er sah exakt aus wie ein von den Toten wieder auferstandener, etwas in die Jahre gekommener Wilhelm von Humboldt; das gleiche distinguiert-strenge Gesicht mit der langen Oberlippe und den großen, schräg abfallenden Augen, das gleiche länglich zurückweichende Kinn, die schmalen Schläfen, der magere, intellektuelle Habitus.
"Respektieren Sie bitte die Privatsphäre und entfernen Sie sich umgehend!" befahl er, und es klang sehr wütend.
Monika indessen entfernte sich nicht, sie näherte sich dem zornigen Schloßherrn, der sie mit dem Ruf "Weg, gehen Sie, weg!" vergeblich zu verscheuchen suchte, und erklärte, daß sie eine Nachfahrin von Kunth sei und dessen Grabstätte besuchen wolle und daß sie extra aus Kanada hergekommen sei. Nun wurde der abweisende, schwarzbemantelte Mensch eine winzige Spur freundlicher - was nicht besagen soll, daß er freundlich geworden wäre - und wedelte mit der Hand unbestimmt in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Dort hinten rechts, am Abhang, dort sei das gesuchte Grabmal, und warum wir nicht an der Tür geklingelt hätten. Mit wehendem Mantel entschwand er, und wir zockelten den weiten Weg wieder zurück, gingen an der Familiengrabstätte den Abhang hinauf und entdeckten nun endlich auch einen Weg, der uns - heureka - zur Kunthschen Grabstätte führte.
Später, im Internet, sah ich, was ohnehin klar war: daß in der Person von Monika und der Person des Schloßherrn (eines Rechtsanwalts und Notars namens Ulrich von Heinz) sich die beiden Ururur-Enkel Humboldts und seines Erziehers Kunth auf dem Boden, der die beiden Urahnen in gemeinsamer Tätigkeit erlebt hatte, begegnet waren. Und ich stelle mir vor, was die beiden Urahnen, wenn sie dieses seltsame, fast absurde Rencontre von irgendeinem Himmel aus hätten beobachten können, wohl dazu gesagt hätten:

Kunth: "Sieh an, mein werther Humboldt, da trifft Euer Ururur-Enkel auf meine Ururur-Enkelin, auf dem Boden des Schlosses, das uns in so schönen gemeinsamen Jahren vereinte, in dem Park, den ich seinerzeit mit frohem Sinn und penibler Genauigkeit zum Ergötzen Seiner Eltern gestaltet habe. Doch kann ich nicht verhehlen, daß mir die dem Privatissimum der Familie geschuldete, dennoch wenig elegante Facon, mit der Euer Nachfahr meine Nachfahrin abwies, den recht unangenehmen Eindruck einer nervösen Überreizung vermittelt hat. Ein wenig leutselige Heiterkeit, gutmütige Hinwendung hätte Eurem Nachfahren weitaus besser zu Gesicht gestanden, wenn Ihr mir diesen kleinen Tadel gestatten wollet."
Humboldt: "Gewiß, mein lieber Kunth, dem kann und will ich nicht widersprechen, doch bedenket, daß der Pöbel, der zu unseren Lebzeiten noch zu manierlicher Zurückhaltung angehalten wurde, sich heute überall breitmachet und, neben anderen impertinenten Belästigungen, täuschend echte Abbildungen, man nennet sie Fotografie, von allem und jedem, so auch den privaten Gemächern meines Nachfahrn, anfertiget, die für Geld allüberall feilgehalten werden. Verständlich also auch für Euch, den überaus geschätzten Erzieher meiner Jugendjahre, die harsche Abwehr meines Nachfahrn."
Kunth: "Sei dem, wie es wolle, gleichwohl empfinde ich schmerzliches Bedauern ob der leichthin vertanen Gelegenheit geselligen Austauschs. Welch reizendes Gespräch hätten unsere Nachfahren führen können, gebildet und kunstverständig, wie beide sind! Meine Nachfahrin hat, wie ich höre, ein kluges, Geist und Auge ergötzendes Buch über einen Bildhauer ihrer zweiten Heimat Kanada geschrieben, eine ferne Gegend übrigens, die zu sehen weder meinem weitgereisten Bruder noch mir je vergönnet war..."
Und so weiter. Wer weiß, was die Geister der Verstorbenen in den Blättern der alten Humboldteiche gewispert haben, während die Spätgeborenen fremd unter einem matten Frühlingshimmel sich begegneten und sekundenschnell wieder auseinanderstrebten, fröstelnd vor dem unmerklichen Hauch vergangenen Lebens.