Sonntag, 8. November 2009

Umziehen

Zehn Jahre lang sind wir nicht umgezogen. Zehn Jahre verstreichen unmerklich, wenn die Wohnung verläßlich immer dieselbe ist, wenn die immer gleichen Sträßchen des Vororts immer wieder die gleichen Jahreszeitenkleider anziehen, wenn der Gemüseladen, der Schreibwarenkiosk, der Bäcker, die Apotheke jahraus jahrein von immer denselben freundlichen Menschen, freundliche Schwätzchen haltend, bevölkert werden.

Zehn Jahre lang kein Abschied vom Gewohnten. Kein Erschrecken, - weil dieser Platz, dieser Raum, diese Stadt ab jetzt Vergangenheit, nur noch Erinnerung sein werden. Man vergaß es in dieser langen Periode, daß die Jahre verüberziehen, daß das Leben verrinnt. Daß irgendwann der Erinnernde zum Erinnerten und schließlich vergessen wird.

Nun aber: Umziehen. Doch wieder neu anfangen. Doch auch diese zehn Jahre abschneiden, zum Lebensabschnitt machen, das Abgeschnittene in die Kette des Erinnerten einreihen.

Wir haben alles mitgenommen - unsere altgedienten Möbel, den Flügel, alle Bücher; das Porzellan, die Bilder, die Wäsche, sogar den Kater. Wir schleppen es mit, all das Altvertraute, das Liebgewonnene, das uns in der neuen Umgebung die Geborgenheit schenken soll, die die Dinge scheinbar ausstrahlen, wenn sie uns lange genug begleitet haben.

Aber die Dinge entfalten sich anders in der neuen Wohnung. Das dunkle Buffet, die Bücherregale, der Flügel sehen fast leicht und zierlich aus in der weitläufigen Altbauwohnung mit den hohen Fenstern und Decken. Der Flügel klingt brillanter, frischer. Durch die Fenster blickt ein weiter Himmel und prunkt mit dramatischen Wolkentürmen, glutvollen Sonnenuntergängen und zarten Grauschleiern, und von fern dringt gedämpftes Verkehrsrauschen - sehr großstädtisch, weit ausholend, belebend.

Eine neue Geborgenheit? Sie wird sich einstellen, sie stellt sich ein, schon jetzt, wenn auch nicht mehr als Illusion der Zeitlosigkeit, die das friedliche Leben im Grünen so verführerisch machte. Nur unser Kater jammert immer mal wieder, morgens und abends, wenn ihn die Sehnsucht übermannt nach dem kleinen Garten, in dem er herumspazierte, dem Gras, auf dem er sich lang in der Sonne ausstreckte, dem Vogelgezwitscher, den vorbeisummenden Fliegen. Die kleine Loggia mit der alten Gartenbank, die wir nun statt Garten haben, die verachtet er.

Montag, 15. Juni 2009

Mediziner-Tüv im Internet

Die Aok - und mit ihr weitere Krankenkassen - wollen eine Ärztebeurteilung im Internet einführen.
Das ist doch mal eine gute Sache. Jeder Arzt wird benotet, und dann weiß der Laie, wo er in Zukunft beispielsweise seine Zähne ziehen und seine Hämmorrhoiden beseitigen lassen kann, ohne daß fatale Mißgeschicke in Form von Zahnfäule, Stuhlverhaltung und Krebs sein Leben bedrohen.
Eine geheime Studie, die in einem breit angelegten Testversuch bereits eine große Gruppe von Patienten befragt hat, ist zu überzeugenden Ergebnissen gelangt.
Hier einige Auszüge aus den vertraulichen Protokollen, die uns durch einen Zufall in die Hände gespielt worden sind.

1. Zeugnis, Aussage von Frau Maier, wohnhaft in Feldafing: Ja mei, der Doktor Wiesenwäldler hat mei Schwiegertochter ja unglaublich hängen lassen, die hot a Windpockeninfektion in der Familie gehobt, und der Dokter hot's net erkannt, und jetzat wern mei Enkelinnen und mei Schwiegertochter in der Kita total gemobbt, weil's do alle angsteckt hobn mit dera Windpocken! Naa, zu dem Wiesenwäldler, do gehn mir nedmer hi, ist kloar. So a Fehldiagnos! Sauerei, dös!

2. Zeugnis, Aussage einer Frau Edelhuber (die die Freundin der Sprechstundenhilfe des Arztes Wiesenwäldler ist): Also i bin total zfridn mit dem Doktor Wiesenwäldler. Er verschreibt mir olles, wos i habn will, und er is immer so nett, umarmt mich und sagt, wir schaffen des scho. Also, des is so a schöne Ermutigung, da fühl i mi schon immer fast ganz gesund, und er macht auch so viel alternative Methoden, des is ja ganz umstritten bei die Kassen, aber es hilft echt super. Also wenn's nach mir geht, der kriagt bei mir die volle Punktzahl. Superarzt und Supermensch!

3. Zeugnis, Langzeitarbeitsloser: I find, der Doktor Wiesenwäldler hat's immer noch verdammt gut, schreibt a Rezept und kriegt 20 €. Wenn i was schreib, krieg i gar nix, höchstens a Lacher. Behandeln tut er mi ned, der sagt mir doch glatt ins Gesicht, i soll arbeiten, und wann i dös ned tu, kann i aa ned gsund wern. Also, dös is a Eingriff in mei freie Persönlichkeitsentfaltung, die ich ned tolerieren ko. Der kriagt von mir die rote Karte, aber hallo! Der hod kei Einfühlungsvermögen, der Wiesenwäldler, dös is a unsensibler Geldsack, wann's mi frogn.

4. Zeugnis einer 90-Jährigen: Ein sehr einsichtiger Arzt, der Herr Doktor Wiesenwäldler. Allerdings ein bißchen stur; er wollte mir doch erst nicht mein Rohypnol und mein Lormetazepam verschreiben, das ich ja schließlich schon seit Jahren zum Schlafen nehme. Hat es aber nach meinem energischen Protest - ich mußte nur ein bißchen mit dem Stock drohen - eingesehen und frißt mir jetzt sozusagen aus der Hand. Ist zwar noch ein rechter Springinsfeld, der Doktor Wiesenwäldler mit seinen fünfzig Jährchen, aber durchaus lernfähig. Reizender Mensch, gut erzogen, manchmal ein wenig kurz angebunden, aber - und das ist eben so erstaunlich - einsichtig. Werde ihm die Höchstnote geben.

5. Zeugnis einer Sprechstundenhilfe aus einer Schönheitschirurgenpraxis über den Arzt eines benachbarten Konkurrenzladens, Doktor Udo Glattleder: Nee, nee, der Udo Glattleder verdient seine Approbation nicht. Extrem, was der sich leistet. Kunstfehler am laufenden Band, aber hinterher wird alles - ha,ha - "schön" geredet. Noch sind ja die Promis bei ihm, aber die werden sich umgucken, wenn sie sich nach ihren Liftings im Spiegel nicht mehr wiedererkennen. Schiefe Nasen sind ja noch das wenigste, er schafft es auch, die Augen an die Schläfenseite zu verschieben und die Haut zu einem gruseligen Dauergrinsen zu spannen. Also, meiner Meinung nach - und ich kenn mich ja schließlich ein bißchen aus - ist das kein Schönheitschirurg, sondern ein Mann mit nem Riesenkomplex, der schöne Frauen nicht ertragen kann.

6. Zeugnis einer Patientin des Schönheitschirurgen Udo Glattleder: Mein Gott, Meister Udo hat wieder ein Wunder bewirkt! Ich blicke in den Spiegel, und ich sehe die junge strahlende Schönheit, die ich eigentlich immer war! Zugegeben, das Lachen fällt etwas schwerer, und die Augenlider lassen sich nicht ganz schließen, aber das sind doch peanuts im Vergleich zu dem fan-tastischen Gesamteindruck. Hans-Dieter hat mir sofort eine Reise nach Paris versprochen, wo wir uns neu einkleiden, und Udo wird auch einen Abend bei uns sein. Freu mich drauf, so ein zauberhafter Mann! ER bekommt natürlich die Bestnote mit Sternchen! Hach!

Die Kommentare der AOK zu diesem geheimen Vorlauf-Screening lassen sich zusammenfassen in dem Resumee, daß das Klassenziel erreicht sei; die Verwirrung unter den Patienten werde durch die gegensätzlichen Beurteilungen so groß werden, daß insgesamt die Arztbesuche in den nächsten Monaten stark rückläufig sein würden. "Des ist ja des", sagte ein Erfinder des Konzepts, das sei beabsichtigt - man stelle sich nur vor, wie viele Menschen hinfort nicht mehr zum Arzt gehen würden! Ein Kostenersparnisfaktor, den es so nie gegeben habe!

Nach diesem erfreulichen Resumee verlagerte sich die Besprechung des Testversuchs in die nächste Bar, und man feierte angemessen bis zum nächsten Morgen, denn Gelder für solche wohlverdienten Outings werden in Zukunft reichlich vorhanden sein.

Mittwoch, 29. April 2009

Ad astra

Während Simon Solbergs "Faust", einer Hausproduktion des Münchner Volkstheaters, die anfangs so klare Luft der Befreiung vom Goethe-Text bald ausgeht...
(Egbert Tholl, SZ 25.04.09 in einer Besprechung des "Radikal Jung"-Theaterfestivals, Hervorhebung von mir)

"Unsere 40 Millionen Kunden haben 85 Millionen Gratis-SMS verschickt. Das ist ein Rekord. Es übersteigt deutlich die Zahl vom Neujahrstag 2009."
(Dirk Wende, Unternehmenssprecher T-Mobile, über den Erfolg des Wiedergutmachungsangebots der T-Mobile für einen Netzausfall, bei dem die Kunden einen Sonntag lang kostenlos SMS verschicken durften.)

Wagner: Verzeiht! es ist ein groß Ergetzen,
Sich in den Geist der Zeiten zu versetzen;
Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
Und wie wir's dann zuletzt so herrlich weit gebracht.
Faust: O ja, bis an die Sterne weit!
(Goethes "Faust I")

Mittwoch, 11. Februar 2009

Judith Butler und ihre Fans: Wie tolerant sind Intellektuelle?

Riesige Pilgerscharen warteten ... im Foyer ... der Freien Universität Berlin. Theoriefreaks, studentisches und poststudentisches Publikum, Butler-Look-Alikes, gemischtgeschlechtliche Gender-Performer... Eine Mischung aus gespannter Aufmerksamkeit, Party-Atmosphäre und Großereignis durchwehte den Raum. Die Rhetorik-Professorin aus Berkeley, ein Star der zeitgenössischen Philosophie, hielt die zweite "Hegel-Lecture" des "Dahlem Humanities Center", das vor zwei Jahren im Zug der Exzellenzinitiative gegründet wurde.Im überfüllten Audimax - in vier weitere Hörsäle wurde per Video übertragen - hatten es die Einführenden nicht leicht: Ursula Lehmkuhl, Vizepräsidentin der FU, wurde schlichtweg ausgelacht, als das Reizwort "Exzellenzuniversität" zum ersten Mal fiel, die Ausführung der FU-Erfolgsstory ging in Buh-Rufen unter. Ein Hauch von Revolte breitete sich aus - wann waren diese Räume wohl zuletzt so zum Bersten gefüllt? - als Joachim Küpper, Sprecher des Dahlem Humanities Center, zu einer zweiten Ruhmrede anhob. Dieses Publikum wollte weder vom "Pathos der Freiheit" noch von den Leistungen der Universität etwas hören, es wollte seinen Star, und zwar sofort... (SZ vom 10. Februar 2009)

Ich fühlte mich bei der Lektüre dieses Berichts an die Studentenrevolte der ausgehenden 60er erinnert, die ich - leider - in Marburg miterleben mußte: die gleiche arrogante Unverschämtheit, mit der damals Professoren mundtot gemacht wurden, die gleiche latent gewaltbereite Ungehobeltheit, der gleiche Hype um Pseudogrößen, um sogenannte "Stars" der intellektuellen "Szene" (kann es überhaupt so etwas geben, wenn es um Wissenschaft und Wahrheit geht: "Stars"? Stars -Sterne - pflegen zu blenden, und das ist weder der Logik noch der Wahrheitsfindung zuträglich, ebensowenig wie ein Freund der Wissenschaft zugleich der "Fan" - d.h. der fanatische Verehrer eines wie auch immer gearteten Wissenschaft-Stars - sein kann.)

Aber letztlich nicht verwunderlich, daß es gerade solche "Fans" - im Klartext: Wissenschaftsmoden nachbetende Halbintelligenzen - waren, die sich derartig aufführten, und doppelt und dreifach nicht erstaunlich, daß es Jünger von Judith Butler waren. Denn die Lizenz zum individuellen Sich-daneben-Benehmen schwirrt seit der Romantik durch die unreifen Köpfe unserer Intellektuellen, und Judith Butlers Theorien sind nichts anderes als sprachlich verklausulierte und modisch aufgeputzte Versionen unausgegorener romantischer Ideen von der beliebigen Formbarkeit der Realität durch das Individuum, der unendlichen Wandelbarkeit des Ich und der unbegrenzten Verfügbarkeit alles Wirklichen für den frei umhervagabundierenden romantischen Geist.

Für eine feministisch orientierte Gender-Theoretikerin mag es ja naheliegend sein, daß sie die biologische Tatsache der Aufteilung der Menschheit in zwei Geschlechter bezweifelt und lieber von der sprachlichen "Performance" abhängig machen möchte, aber es läßt sich nun einmal nicht bestreiten, daß unser Geschlecht durch die Beschaffenheit unserer Chromosomen und nicht durch sprachliche Vereinbarungen festgelegt wird. Ebenso darf der Erkenntnisgewinn des "Frame"-Begriffs bezweifelt werden; das ist doch einfach nur ein schicker Name für den schon immer von denkenden und kommunizierenden Menschen geübten Vorgang des Analysierens, Beschreibens und Publizierens.Vollends trivial - um das hier auch noch kurz loszuwerden - erscheint mir außerdem Butlers Berufung auf Hegels Definition des Ich als "nicht völlig festgelegte, nicht völlig umgrenzte Entität". Das heißt, eigentlich ist hier Hegel schon trivial, denn diese Definition des Ich beschreibt einfach nur etwas Lebendiges; alles, was lebt, ist nunmal nicht "völlig festgelegt und umgrenzt", im Unterschied zur toten Materie.

So, bis hierher und nicht weiter. Lohnt sich nämlich nicht. Und um das nur nochmal zu sagen: Egal, wie lächerlich die Begriffe "Exzellenzuniversität", "Humanities center" sind und was der Geier es sonst noch im Zuge der Universitätsreformen gibt, es ist trotzdem rüpelhaft, intolerant und pubertär, einen Redner, der nur seine Pflicht tut, durch Buhrufe und Gelächter niederzumachen!