Samstag, 24. November 2012

Kinderdepots mit Qualitätssiegel



Vor wenigen Wochen habe ich in diesem Blog zur Debatte um das Betreuungsgeld und zur Problematik früher „Fremdbetreuung“ Stellung genommen. Diese  Diskussion nimmt kein Ende, sondern zeitigt im Gegenteil immer groteskere Formen.
Nachdem Herr Trittin und andere Volksvertreter im Bundestag unwidersprochen ihre Verachtung für Mütter demonstrieren durften, die nach der Geburt ihr kleines Kind selbst betreuen, statt sich umgehend  wieder in den Arbeitsprozess zurückzubegeben, hat sich jüngst ein veritabler Experte, nämlich der Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Professor Jörg M. Fegert, zu Wort gemeldet (FAZ vom 17.11.2012).
Die eine ganze Zeitungsseite einnehmenden Erörterungen des Professors tragen den listig doppeldeutigen Titel „Qualität – in jeder Beziehung“.
Schon die eingangs aufgestellte These, dass diese Debatte nicht ohne die Geschichte der deutschen Teilung verstanden werden könne, ist nicht überzeugend. Die Forderungen politischer und anderer Meinungsträger nach flächendeckender und frühzeitiger Fremdbetreuung in Krippen und Kitas, die zur Zeit weitgehend die Debatte bestimmen, sind kein Echo auf die seinerzeitige kollektive Kinderfremdbetreuung der DDR.
Sie sind vielmehr in der Dominanz ökonomischer Interessen zu suchen, für die es nicht tolerierbar ist, dass mit der Gruppe der jungen Mütter, sofern diese  eine längere Kinderpause machen, ein relativ hoher Prozentsatz der arbeitsfähigen Bevölkerung dem geldwerten Arbeitsprozess entzogen ist.
Fegert geht erst gar nicht so weit, diese Grundlage der Debatte in den Blick zu nehmen, geschweige ihre Berechtigung in Zweifel zu ziehen. Zwar konzediert er immer wieder, dass die für die weitere Entwicklung eines Kindes eminent wichtige „Bindungssicherheit“ nur durch frühe und stabile Bindung des kleinen Kindes an eine oder wenige Bezugspersonen entsteht, er zieht aber aus dieser Erkenntnis nicht die Konsequenz, dass für Kleinstkinder die beste und natürlichste Form der Kinderbetreuung eben nicht Fremdbetreuung, sondern die elterliche Zuwendung und Fürsorge wäre. Der gesamte Artikel krankt an dem Widerspruch zwischen dieser  Erkenntnis und der von Fegert  nicht grundsätzlich hinterfragten Forderung nach Fremdbetreuung.
Dieser Widerspruch wird nicht gelöst. Fegert nimmt stattdessen Zuflucht zu der mit bombastischem technokratischem Vokabular vorgetragenen Forderung nach umfassender Aufrüstung und „Qualitätssicherung“ der Krippen und Kitas (in Michael Endes „Momo“, der klarsichtigen Vision einer technokratischen Welt, heißen diese „pädagogisch wertvollen“ Anstalten „Kinderdepots“). Da ist die Rede von „qualitativ hochwertigen Beziehungsangeboten“, von „grundlegenden Qualitätsparametern“, von der „Qualität des kognitiv und sozial entwicklungsanregenden Angebots und des kleinkindpädagogischen Gesamtkonzepts“, und der Notwendigkeit der „Qualitätssicherung“, die durch „Qualitätsmanagement“, Prüfung der „Prozessqualität“ und der „Ergebnisqualität“ erreichbar sei. Fegert orientiert sich dabei an Amerika, wo der Ausbau von Kleinkindbetreuung wissenschaflich begleitet worden ist.
(Nebenbei bemerkt, ist seine idealisierende Deutung des Begriffs „child care“ schlicht und einfach falsch; in diesem Begriff ist nicht etwa das „fürsorgliche Beziehungselement“ enthalten, das „für gelingende Betreuung …unabdingbar ist“, vielmehr wird der Begriff „care“ im Englischen geradezu inflationär für alles und jedes benutzt, das gepflegt werden soll (man denke an „skin care“). Ob die wissenschaftliche Begleitung des institutionellen „Child Care“-Ausbaus in den USA das Heil gebracht hat oder bringen wird, verrät uns Fegert übrigens nicht.)
 Abgesehen davon, dass eine solch wundersame Verbesserung der frühkindlichen Fremdbetreuung, wie sie sich Fegert von der wissenschaftlichen Qualitätskontrolle erhofft, vollkommen utopisch wäre, ist sein Vokabular verräterisch. Es verwundert nicht weiter, dass ein Autor, der eine solche Begrifflichkeit verwendet, die biologische Grundlage der Mutter-Kind-Beziehung als „nicht primär“ bezeichnet, ohne dass er merkt, dass seine Begründung – der Verweis auf die historischen Formen menschlichen Zusammenlebens in Gruppen oder Großfamilien - kein biologisches, sondern ein soziologisches Argument ist. Der Mensch ist biologisch gesehen ein Säugetier, und in dieser Klasse ist die Mutter-Kind-Bindung im Prozess des Säugens sowohl biologisch fundiert wie lebensichernd. Dass diese Bindung auch in den oben genannten Großfamilien- oder sonstigen Gruppierungen als die primäre zu sehen ist, dürfte evident sein, ebenso evident wie die Tatsache, dass sie nicht durch noch so hochwertige Bildungs-, Bindungs- und entwicklungsanregende „Angebote“ ersetzt werden kann.
Wenn es als Ausnahme von dieser biologischen Regel hin und wieder Mütter gibt (und die gibt es auch im Tierreich), die ihrem natürlichen Mutterinstinkt nicht nachkommen können oder wollen, so setzt dies die Regel nicht als solche außer Kraft.
Im übrigen muss, sofern man die positive Lebensform der Großfamilie als rechtfertigendes Argument für Kitas und Krippen ins Feld führt, bedacht werden, dass eine Großfamilie, mit den überwiegend erwachsenen Bezugspersonen und im Alter differenzierten, wenigen weiteren Kindern, für ein kleines Kind ein Umfeld ist, das sich fundamental von einer Kita unterscheidet, in der wenige Erwachsene eine große Anzahl von gleichaltrigen Kleinkindern betreuen.
Es ist der Grundfehler sozialistisch geprägten Denkens, die negative (und bedauernswerte) Ausnahme zur  normierenden Kraft oder gar Legitimation für einschneidende Eingriffe in bewährte soziale Systeme zu erheben – hier also für an die Substanz der Familie und der Mutter-Kind-Beziehung rührende Eingriffe in das System Familie auf der Basis einer inzwischen offenkundigen Abwertung der Familie und der Rolle der Mutter.
Herr Trittin und andere, die lauthals die Abschaffung der  Familie betreiben, sollten zur Kenntnis nehmen, dass beispielsweise in Israel die Experimente der nichtfamiliären Erziehung im Kibbuz längst wieder aufgegeben wurden  und selbst die Sowjetunion wieder zur traditionellen Form der Kinderaufzucht in der Familie zurückgekehrt ist.
Was not täte: Ein Umdenken in der Bewertung der Mutter-Kind-Beziehung und der Leistung von Müttern sowie  die entsprechende Unterstützung junger Mütter im häuslichen Umfeld und  die Entwicklung von Arbeits- und Fortbildungsmodellen, die den Frauen eine problemlose Rückkehr in ihren Beruf auch nach einer längeren Kinderpause ermöglichen würden. Und was noch wesentlicher wäre: wir müßten zu einer Kinderfreundlichkeit zurückfinden, wie sie früher  immer selbstverständlich war. Eine Gesellschaft, in der seit Legalisierung der Abtreibung über fünf Millionen Kinder abgetrieben worden sind, wird auch weiterhin die Rechte der Kinder zugunsten ökonomischer Interessen ignorieren.
Kinder sind unsere Zuk,unft, und sie haben, trotz aller  „qualitativ hochwertigsten Beziehungsangebote“ in Kitas und Krippen mit den von Fegert gewünschten „feinfühligen“ Erziehern ein Recht auf die Bindungssicherheit, die sie durch die mütterliche Liebe erfahren. Es ist wohl kein Zufall, dass das Wort „Liebe“ in Fegerts Artikel nicht vorkommt.

Donnerstag, 18. Oktober 2012

Paralympics und Inklusion



Vor wenigen Wochen wurden in London die „Paralympics“ gefeiert, und die Wettkämpfe der Körperbehinderten begeisterten wie nie zuvor ein riesiges Publikum. Dürfen wir uns also freuen, dass Behinderte quasi in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen sind, dass sie trotz ihrer Behinderung genauso  oder  fast noch  mehr gefeiert werden wie die sportliche Spitzenprominenz? Hat eine neue Kultur des verständnis- und respektvollen Zusammenlebens in einer schönen neuen Welt der angstfreien und großzügigen Inklusion begonnen?

Zu schön, um wahr zu sein? In der Tat. Zur gleichen Zeit, da diese Paralympics scheinbar die wunderbare Akzeptiertheit von Behinderten in unserer Gesellschaft bewiesen, wurde in Deutschland der Bluttest zur pränatalen Diagnostik der Trisomie 21 (Down-Syndrom) zugelassen. Dieser Test ermöglicht es schwangeren Frauen, schnell und risikofrei Gewissheit darüber zu erlangen, ob ihr  Kind an Down-Syndrom leidet, so dass sie genügend Zeit für die Entscheidung gegen dieses Kind und eine Abtreibung haben.

Mir ist nicht bekannt, ob bei den Paralympics auch Sportler mit Down-Syndrom teilgenommen haben. Ich weiß allerdings, dass die überwiegende Mehrzahl der behinderten Sportler Körperbehinderte sind, die aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit Gliedmaßen, Gehör oder Augenlicht verloren haben.
Dass ein solcher Körperbehinderter die Leistungsfähigkeit seiner Physis austesten will und dass Menschen die Willenskraft, mit  der solche Leistungen hervorgebracht werden, bewundern, ist verständlich.
Man muss sich aber auch darüber klar sein, dass Leistungssport von Behinderten demselben Leistungsdenken gehorcht, das unsere gesamte moderne Welt prägt und das mit seiner darwinistischen Selektion der Stärksten dem Ziel einer umfassenden Akzeptanz Behinderter diametral entgegengesetzt ist. So wird im Behindertensport die Chance nicht wahrgenommen, aus dem Faktum des Behindertseins die Abkehr vom Leistungsdenken hin zu einer neuen Lebensorientierung zu vollziehen. 
Deshalb  ist auch die Begeisterung für die Paralympics keineswegs der eingangs beschworene Ausdruck einer neuen Humanität. Diese Begeisterung gehorcht einfach nur dem Leistungsdenken und dem Rekordwahn des normalen Sports und vermischt sich mit der ohne große Mühe zu erzeugenden Toleranz gegenüber Körperbehinderung. Denn von allen Behinderungsformen ist die Körperbehinderung diejenige, die die kleinsten Akzeptanzprobleme mit sich bringt. Eine körperliche Behinderung ist im Grunde nichts, das den Betroffenen fremd erscheinen läßt – ein physischer Defekt, der keine oder wenig  Auswirkung auf Psyche und Verhalten hat und den der „normale“ Gesunde ohne weiteres verstehen kann.
Alle anderen Behinderungen, vor allem diejenigen, die angeboren sind, gehören zu einer komplett anderen Kategorie. Sie betreffen den ganzen Menschen, seine Sprache, sein Verhalten, sein Aussehen, und machen ihn so in den Augen Gesunder, die zumeist nichts wissen von solchen Behinderungen, zu etwas, das fremd, unverständlich, merkwürdig oder gar unheimlich  erscheint. Das Fremde aber, das man nicht versteht, wird abgelehnt.
So ist es logisch, dass gleichzeitig mit den Paralympics und der zur Schau gestellten Toleranz gegenüber körperbehinderten Sportlern der Bluttest auf Down-Syndrom in Deutschland zugelassen wurde. Und es ist ferner konsequent, dass die sozialen Leistungen für Behinderte immer weiter abgebaut werden (neuestes Beispiel: die bisherige Gebührenbefreiung Schwerbehinderter für Rundfunk und Fernsehen wird jetzt abgeschafft; älteres Beispiel: schon seit längerem werden einkommenslose Behinderte an den Zuzahlungen zu Kassenleistungen beteiligt).

Körperbehinderte Sportler, die dem gleichen Leistungsdenken huldigen wie alle? „Ja gern.“

Geistig Behinderte, die „anders“ sind, die niemals etwas leisten, etwas haben, etwas darstellen werden, und die darüber hinaus im Bildungssystem enorme Kosten verursachen? „Nein danke.“

Dass dennoch die vielgepriesene „Inklusion“ an Regelschulen zaghaft angefangen hat, wäre eigentlich ein positives Zeichen. Denn nur mit der frühzeitigen Integration behinderter Kinder ließe sich die Fremdheit und die Scheu gegenüber nicht nur körperlich Behinderten abbauen, und mehr noch, bestünde die Chance für die gesunden Kinder, den Reichtum an Lebensfreude und an  Liebe zum Leben, den schwerbehinderte Menschen so oft haben, kennen und lieben zu lernen.
Soll die Inklusion an Schulen aber gelingen, wird sie Geld kosten, sehr viel Geld; nur mit gutem Willen ist es hier nicht getan. Man braucht Sonderschullehrer, Therapeuten, Therapieräume, Pfleger und Betreuer, und das sind dauerhafte Kosten in gewaltiger Höhe, die unser Staat aufzubringen nicht bereit sein wird. Dieser Staat baut im Gegenteil die Sozialleistungen für Behinderte ab und  erleichtert die Abtreibung behinderter Kinder.

Solange dies so ist, wird es in Deutschland keine echte Inklusion geben.

Samstag, 29. September 2012

Judith Butler und der Fettnapf

Es war einmal eine traurige amerikanische Philosophin, die sich fremd in ihrem Körper fühlte, Frauen liebte und deswegen die biologische Zweiteilung der Menschheit in zwei verschiedene Geschlechter (engl. gender) nicht akzeptierte. Sie fand Trost bei der französischen Philosophin Simone de Beauvoir, die zwar Männer liebte, aber trotzdem überzeugt war, dass man nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht würde, und baute dies zu ihrer Gender-Theorie aus, die sie in viele rätselhafte, aber modische Wörter einkleidete, so dass die Intellektuellen in der ganzen Welt tief beeindruckt waren. Wie glücklich war man weit und breit, dass endlich einmal wieder alle Gewissheiten in Bewegung gerieten, und das Beste daran war, dass man die Begriffe der traurigen Philosophin nachplappern konnte und sofort von anderen Intellektuellen als brillant, informiert und auf der Höhe des Zeitgeists befindlich eingeschätzt wurde.
Dann aber passierte etwas Schreckliches, ausgerechnet kurz vor dem Tag, an dem die traurige Philosophin einen Preis erhalten sollte, genannt nach einem berühmten Denker, der für seine „kritische Theorie“ und „negative Dialektik“ von allen Intellektuellen und jenen, die es sein wollten, immer über den grünen Klee gelobt worden war:

Die traurige Philosophin trampelte in ein riesengroßes Fettnäpfchen!

Obwohl sie Jüdin war, kritisierte sie Israel und seine Politik und pries deren Feinde, die Hamas und Hisbollah, als „Teil einer globalen Linken“.
„Oh my God“, dachten nun viele Intellektuelle, „wie kann das sein? Ist unsere Gender-Spezialistin etwa doch nicht so klug, wie wir gedacht haben?“ Und es entstand eine hitzige Diskussion in allen Medien darüber, ob die traurige Philosophin den Preis kriegen dürfe oder nicht.
Aber ebenso schnell, wie man sich aufgeregt hatte, beruhigten sich alle – oder fast alle – wieder. Nein, sagten die meisten, wir haben uns nicht geirrt, eine kluge Philosophin bleibt klug, auch wenn sie anstößige politische Auffassungen hat. Das muss man einfach auseinanderhalten.
Dennoch wurde im Windschatten des allgemeinen Zweifels hier und dort auch scharfe oder gar vernichtende Kritik am wissenschaftlichen Rang der traurigen Philosophin geäußert. Die Gender-Theorie jedoch blieb, bis auf wenige Ausnahmen merkwürdig unangetastet.

Und die Philosophin selbst? Sie sagte nicht etwa, dass sie Unsinn geredet habe. So etwas darf eine Philosophin, die auch in Zukunft respektiert werden möchte, niemals tun. Sie griff ganz einfach zu dem Zauberwort, das auch ein Politiker ausspricht, wenn er ein Fettnäpfchen getroffen hat: „Missverständnis“. Und sie fügte hinzu, dass sie „gegen Gewalt“ sei.

So kehrte wieder Friede ein in die Welt der Intellektuellen.

Nachwort: ich selbst habe bereits vor drei Jahren in diesem Blog zu Judith Butler und ihren Ideen, insbesondere der Gender-Theorie, kritisch Stellung genommen. Wer es nachlesen möchte, möge es tun (unter 2009 der Post vom 11. Februar).

Dienstag, 12. Juni 2012

Frühkindliche Bildung im Kinderdepot

Seit Wochen tobt der Kampf um das Betreuungsgeld, mit einem Fanatismus von den Betreuungsgeld-Gegnern geführt, angesichts dessen man sich fragt, ob es hier nicht um sehr viel mehr geht.

Die letzte Stellungnahme, wo wieder einmal so getan wird, als ob das Betreuungsgeld verhindern würde, dass Dreijährige in die Kita geschickt werden, stammt von Alex Rühle und wurde heute unter dem Titel „Lästiger Kostenfaktor auf der Krabbelstufe I“ in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht.

Alex Rühle beschließt seinen Kommentar zum Kita-Ausbau mit den Worten: „Das Betreuungsgeld soll dafür gezahlt werden, dass Eltern ihre Kinder nicht in die Kita geben. Es ist zum Heulen.“

Ja, es ist in der Tat zum Heulen. Es ist zum Heulen, dass die SZ konstant Betreuungsgeld versus Kita-Ausbau hält und damit verschleiert, dass diese Unterstützung Müttern von Kleinstkindern zugute käme, die ihren noch hilf- und, wohlgemerkt, sprachlosen (!) Kindern die Zuwendung und Geborgenheit geben möchten, die sie in diesem Alter noch brauchen. Kinder zwischen 0 und 2 Jahren brauchen keine sogenannte „frühkindliche Bildung“, was immer das sein soll; sie brauchen Liebe, Geborgenheit und die Konstanz einer liebevollen Bezugsperson.

Dass solche häusliche Betreuung von Kleinstkindern, ermöglicht durch das Betreuungsgeld, nichts zu tun hat mit der für bildungsferne Schichten sicherlich sinnvollen Förderung von Kindern ab 3 Jahren in Kitas, ist eigentlich eine Trivialität, die man aber offenbar immerzu wiederholen muss, damit sie irgendwann auch mal in den gehirngewaschenen Köpfen der liberalen Journalisten, Politiker und leider auch jungen Frauen ankommt.

Warum ignoriert die SZ statistische Erhebungen, aus denen hervorgeht, dass ein Kleinkind im Alter von einem Jahr nach mehreren Stunden in einer Krippe oder Kita den Stresspegel eines Börsenmanagers erreicht? Warum stiert man von links bis liberal-mittig mit Tunnelblick auf das eherne Gebot der Radikalfunktionalisierung aller Mütter im und durch den Beruf? Man fühlt sich auf erschreckende Weise an Michael Endes „Momo“ und die dort geschilderten „Kinderdepots“ erinnert.

Ich empfehle zur Erweiterung des vom Furor der Betreuungsgeld-Kritik möglicherweise vernebelten Horzonts die Lektüre der sehr viel ausgewogeneren Kommentare der Konkurrenz, wie z.B. den Artikel „Antibürgerlich und sozialistisch“ von Georg Paul Hefty in der FAZ vom 5.6.2012.

Was eigentlich geschehen müßte: Jungen Müttern müsste eine sehr viel längere Familien- und Kinderpause ermöglicht werden, die, gestützt durch Fortbildungs- und berufliche Halbtagsangebote in großem Stil, keine Bedrohung für den Wiedereinstieg in den Beruf darstellen würde. Ein Ausbau der beruflichen Wiedereingliederungsmöglichkeiten von jungen Frauen mit Kindern wäre viel billiger als der hektisch betriebene Kita- und Krippenausbau, und er käme nicht nur den Frauen, sondern auch und vor allem den Kindern zugute, die eben nicht schon als Einjährige in den brutalen Zeitplan eines durchfunktionalisierten Berufslebens eingespannt werden müßten.

Man sollte im übrigen auch zur Kenntis nehmen, dass im sogenannten Ausland, auf das in dieser erhitzten Debatte immer verwiesen wird, Kleinkinder keineswegs so flächendeckend und umfassend schon in Kitas gesteckt werden, wie man hier glauben soll, sondern die „frühkindliche“ Förderung in Kitas eher ab dem Alter von zwei oder auch erst drei Jahren beginnt.

Ein letztes: Es ist unverschämt und arrogant, dass man Migrations- und sozial schwachen Familien keine liebevolle Betreuung ihrer kleinen Kinder zutraut. Die Wirklichkeit sieht anders aus, und vielen jungen, mittellosen Müttern würde das Betreuungsgeld die Chance geben, für ihre kleinen Kinder solange die unersetzliche Bezugsperson zu sein, wie diese Kinder noch nicht laufen, noch nicht sprechen und sich noch nicht wehren können. Eine humane Minimalforderung im Interesse der Kinder, die eigentlich selbstverständlich sein sollte.

Dienstag, 3. April 2012

Der edle Wilde. Zum 100. Todestag von Karl May

Was war eigentlich so faszinierend an Karl May? Es gab doch auch andere Autoren, die abenteuerliche Geschichten erzählten, Spannendes, Fesselndes, Romantisches, Lustiges, das man im Bücherfressalter zwischen 11 und 15 gierig verschlungen hat.
Aber Karl May hatte einen eigenen Ton, und es waren überaus edle Menschen, denen man begegnete. Menschen, wie sie nicht vorkamen im realen Leben, das sich im allmählichen Heranwachsen als verwirrend, nicht besonders attraktiv, nicht besonders edel und weder als abenteuerlich noch sonst irgendwie erhebend offenbarte.
Wie begeisternd war da der „edle Wilde“ Winnetou! Frei von allem Zivilisationsschrott, von allen Bedingtheiten des „zivilisierten“ Menschen, von dem moralischen und emotionalen Gemischtwarenladen, als den man sein eigenes unfertiges pubertierendes Ich und die Welt um sich herum wahrnahm. Ja, das war es! Ein freier, edler, kühner Geist, der den edlen Christusmythos der Kinderjahre ablöste und an seine Stelle trat. Und es mußte ein „Wilder“ sein – nur in ihm, diesem „freien“ Wesen, das nicht wie man selbst in einer fest definierten Zivilisation lebte, war – aus der noch unklaren, unreifen Erkenntnis der eigenen Bedingtheit - das absolut Edle, Gute und Schöne vorstellbar.
Dass Karl May diesen Übermenschen Winnetou sterben ließ, war logisch, und nie wieder habe ich bei einem Buch so viele Tränen vergossen wie bei Winnetous Tod. Der Begeisterung für die edle, heroische Welt Karl Mays ist nie mehr etwas Vergleichbares gefolgt. Das Lesen wurde erwachsener, die Lesewelt wurde realistischer, sie näherte sich, über Storm, Sigrid Undset, Thomas Mann und viele andere immer mehr dem „wirklichen“ Leben an.
Aber ich kann es immer noch verstehen, wenn – wie kürzlich in einer Radiodiskussion zu Karl May –ein enthusiastischer alter Herr sich hinreißen ließ, in süddeutschem Dialekt und euphorisch beschwingter Suada die Ethik, den Humor, die Spannung und die Kunst Karl Mays über den grünen Klee zu loben und zu preisen.
Danke, Karl May!

Mittwoch, 28. März 2012

Wie edel sind Sie, Frau Adler?

Offener Brief an Jutta Adler, Geschäftsführerin der Berliner Konzertdirektion Adler

Sehr geehrte Frau Adler!

Vor etwa drei Wochen habe ich Sie in einem persönlichen Brief gebeten, bei Konzerten, die von Ihrer Konzertdirektion veranstaltet werden, den Begleitpersonen von schwerbehinderten Rollstuhlfahrern eine Freikarte oder zumindest eine spürbare Ermäßigung zu gewähren – eine Freundlichkeit, zu der Sie als Privatfirma zwar nicht, wie staatliche Institutionen, durch die Gesetzgebung verpflichtet sind, die aber allgemein auch im privaten Wirtschaftssektor üblich ist.

Sie erwiderten diesen meinen Brief mit dem Anruf einer Mitarbeiterin Ihrer Konzertdirektion, die mich auf das „karitative Engagement“ von Adler in Form der Vergabe von Frei- oder ermäßigten Karten an karitative Einrichtungen aufmerksam machte und des weiteren behauptete, die in Frage stehenden Plätze seien „de facto“ ermäßigt, nämlich „eigentlich“ viel teurer, und dass es für mich aber anscheinend „netter“ sei, von einer Ermäßigung zu hören, die ja eigentlich auch vorhanden sei, nur eben nicht ausformuliert. Diese Ausführungen erwiesen sie sich bei einer genaueren Prüfung der entsprechenden Platzkategorien und der für das in Frage stehende Konzert ausgewiesenen Kartenpreise als falsch und widersprachen ohnehin der Auskunft des Mitarbeiters am Kartenschalter, der schlicht und unmissverständlich gesagt hatte, dass „Adler keinerlei Ermäßigungen für Rollstuhlfahrer und deren Begleitung“ gibt.

Ich schrieb Ihnen daraufhin ein zweitesmal und verwies zum einen darauf, dass Ihr karitatives Engagement in Hinblick auf Freikarten zwar erfreulich sei, dem individuellen Rollstuhlfahrer jedoch keinerlei Vorteile brächte, zum anderen, dass die Behauptung einer „eigentlich“ vorhandenen Preisermäßigung nicht den Tatsachen entspricht. Ferner äußerte ich noch einmal meine Bitte um einen deutlichen Preisnachlass für Schwerbehinderte und/oder deren Begleitung.

Auf diesen Brief haben Sie nicht geantwortet.

Ich finde das traurig und beschämend.

Es ist keineswegs eine Lappalie, wenn der führende Konzertveranstalter von Berlin den wenigen schwerbehinderten Rollstuhlfahrern, die in klassische Konzerte gehen möchten, nicht entgegenkommt; wenn er sich also ganz bewußt aus einer humanen Praxis ausklinkt, die generell in Deutschland (und der gesamten zivilisierten Welt) erfreulicherweise zur Norm geworden ist. Das soziale Klima einer Stadt wird nicht zuletzt durch solche Dinge bestimmt.

Ich frage mich, warum sich Adler auf die Bitte um eine Änderung dieser Preisgestaltung, die im wirtschaftlichen Gesamtvolumen einer gutverdienenden Agentur vollkommen marginal sein dürfte, in Schweigen hüllt.

Oder geht es Adler so schlecht, dass man sich Freikarten für Rollstuhlfahrerbegleitungen nicht leisten kann? Oder aber – und dieser Schluss drängt sich auf - sind Schwerbehinderte in den Konzerten von Adler nicht erwünscht, weil sie das gutbürgerliche Gesamtbild stören könnten?

Ich möchte abschließend noch bemerken, dass ich in dreißig Jahren mit einer schwerbehinderten Tochter, die mich nach Irland, Südafrika, Stuttgart, Regensburg und München führten, mit Berlins Konzertagentur Adler zum erstenmal etwas Derartiges erlebt habe.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Lore Brüggemann

Donnerstag, 8. März 2012

Raunende Reaktionäre

Gestern stand in der SZ unter dem Titel Zerbrochene Harmonie eine kleine Besprechung zu dem Buch „Dissonanz und Harmonie in Romantik und Moderne“ von Werner Keil (Detmolder Musikwissenschaftler).
Was der Rezensent Michael Stallknecht zusammenfassend berichtet, klingt hochinteressant: Keil entwickelt aus dem Musikbegriff der Romantiker, die "die Musik erstmals zu den Künsten statt, wie seit den antiken Pythagoräern üblich, zu den mathematischen Wissenschaften" zählten, die Theorie, dass durch diesen kategorischen Wechsel Musik einen grundsätzlich anderen Stellenwert bekam; sie sollte nicht mehr "die mathematische Ordnung des Kosmos ausdrücken, sondern Gefühle ausdrücken, das Subjektive ... statt des Überindividuellen, das Vagierende sstatt des Ewigen, das Dissonante statt des Konsonanten. Damit aber verfalle die Musik zunehmend selbst dem Irrationalismus, triumphiere die fortschreitende Emanzipation der Dissonanz (Schönberg) über die noch bei Kepler affirmierte Harmonie der Welt." Vor diesem Hintergrund sieht Keil auch die Beschäftigung vieler Komponisten der beginnenden Moderne mit gnostischen Bewegungen wie der Theosophie als Rückkehr der Mathematik in Form ihrer eigenen Parodie.
Nun beläßt der Rezensent es aber nicht bei seiner Zusammenfassung der interessanten Thesen dieses Buches. Vielmehr stößt er sich ganz offenbar an der kritischen Haltung des Autors gegenüber der klassischen Moderne. Zwar muss er zugestehen, dass das alles „formgeschichtlich …kaum widerlegbar“ sei, aber er unterstellt Keil, dass er im Verlauf seines Buches zunehmend einem „irrationalen und …ziemlich reaktionärem Raunen“ verfalle.
Den Vorwurf der Irrationalität und argumentativen Schwäche müßte der Rezensent sich allerdings selbst machen, da für seine Behauptung des irrationalen Raunens jegliche argumentative Beweisführung fehlt. Nebenbei bemerkt, sind die Begriffe „irrational“ und „Raunen“, ebenso wie die Wörter „dumpf“, „Stammtisch“, „verdruckst“, „schwurbeln“ Totschlagbegriffe aus der Mottenkiste linksliberaler Journalisten, die immer dann geschwungen werden, wenn man keine anderen Argumente parat hat.

So werde ich mir dieses reaktionäre Buch gern kaufen, ebenso wie ein in der Rezension erwähntes Buch von Alex Ross mit dem schönen Titel "The rest is noise", das der Rezensent als befremdlich bezeichnet, weil es die moderne Musik als „zwielichte Angelegenheit“ darzustellen wagt.

Solange die seit Schönberg und Adorno unantastbare musikalische Moderne ein Tabu bleibt und ihre Kritiker pauschal, ohne dass man sich die Mühe einer argumentativen Auseinandersetzung machen würde, als „raunende Reaktionäre“ verunglimpft werden, rechne auch ich mich weiterhin gern zu den reaktionären Raunern (bzw. "Raunerinnen").

Freitag, 13. Januar 2012

Ist Carolyn Christov-Bakargiev ein Mann?

Letzten Sonntag gab die derzeitige Documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev der Faz am Sonntag ein Interview.
Ich zitiere zunächst einige Kernaussagen des Interviews:

Alles ist politisch, absolut alles.
Es (das Symbolische) beruht auf der gedanklichen und praktischen Arbeit eines Feminismus, der das losgelöste, in sich ruhende Wissensganze aufbrechen wollte. Er hat auch das Widersprüchliche und Ungewisse zu verstehen versucht, die Möglichkeit, daß Gegensätze sich nicht ausschließen.
Es ist feministisch, die menschliche Existenz nur als Teil einer weiter gefassten Existenz zu sehen und sich Gedanken über den Blickpunkt eines Tiers oder Steins zu machen.
Wir werden für die Documenta Apfelsaft produzieren, ich habe Bäume dafür gepflanzt. Diese Documenta beruht auf einer Reihe präziser, bescheidener, unspektakulärer Gesten, Akte und Kunstwerke.
Es geht ….darum, wie jeder Einzelne sich in einem ästhetischen und daher politischen Sinne in der Welt engagieren kann.

…wenn man …einen schönen Topf Blumen mitten in eine Schlacht versetzen würde, dann würden sie – vielleicht! – zu kämpfen aufhören.
Für mich ist Verwirrung nichts Negatives, sondern ein ausgesprochen kreativer Bereich. Klarheit ist für mich etwas Gefährliches.
Alles ist intuitiv, jede Entscheidung. Intuition heißt, ohne Argumente handeln. Sie ist eine Frage des Engagements. Ich glaube nicht wirklich an statuiertes Wissen, an Erleuchtung vielleicht.
Ich lege einen Stein hin, sehen Sie, hier ist der Stein. Das ist das eine, und das andere ist die Herstellung der Möglichkeit von Erleuchtung.


Wenn man dieses wirre Geplauder auf eine Kernbotschaft eindampft, wäre es diese: Alles ist politisch, alles ist intuitiv, Klarheit ist gefährlich, es lebe die Ursuppe und der „Blickpunkt“ der Steine. Und all dies soll sein: FEMINISTISCH.
Angesichts eines solchen krassen Feminismusbildes – das Weibliche ist wirr, unklar, unlogisch, ein breiartiges Durcheinander halbphilosophischer Schlagworte, uralter soziologischer Hüte und unausgegorener Allumfassung – drängt sich der folgende Verdacht auf: C.B.B. ist ein verkleideter sexistischer männlicher Feminismushasser, der mit diesem Gerede den Feminismus nach Art eines Undercoveragenten desavouieren möchte.
Dass dieser verkleidete Feminist eine Katastrophe für die nächste documenta wäre, kann man allerdings nicht behaupten, denn der Kunstbetrieb hat sich ohnehin längst von allen nachvollziehbaren ästhetischen Kategorien verabschiedet; es geht ja schon seit Jahrzehnten nur noch um die aberwitzigste Verrücktheit, die man als „noch nicht dagewesen“ vermarkten kann.

Alles ist zwar nicht politisch, aber alles ist Kunst, wenn sich ein Händler findet, der es vermarktet.