Vor wenigen Wochen wurden in London die „Paralympics“
gefeiert, und die Wettkämpfe der Körperbehinderten begeisterten wie nie zuvor
ein riesiges Publikum. Dürfen wir uns also freuen, dass Behinderte quasi in der
Mitte unserer Gesellschaft angekommen sind, dass sie trotz ihrer Behinderung
genauso oder fast noch
mehr gefeiert werden wie die sportliche Spitzenprominenz? Hat eine neue
Kultur des verständnis- und respektvollen Zusammenlebens in einer schönen neuen
Welt der angstfreien und großzügigen Inklusion begonnen?
Zu schön, um wahr zu sein? In der Tat. Zur gleichen Zeit, da
diese Paralympics scheinbar die wunderbare Akzeptiertheit von Behinderten in
unserer Gesellschaft bewiesen, wurde in Deutschland der Bluttest zur pränatalen
Diagnostik der Trisomie 21 (Down-Syndrom) zugelassen. Dieser Test ermöglicht es
schwangeren Frauen, schnell und risikofrei Gewissheit darüber zu erlangen, ob
ihr Kind an Down-Syndrom leidet, so dass
sie genügend Zeit für die Entscheidung gegen dieses Kind und eine Abtreibung haben.
Mir ist nicht bekannt, ob bei den Paralympics auch Sportler
mit Down-Syndrom teilgenommen haben. Ich weiß allerdings, dass die überwiegende
Mehrzahl der behinderten Sportler Körperbehinderte sind, die aufgrund eines
Unfalls oder einer Krankheit Gliedmaßen, Gehör oder Augenlicht verloren haben.
Dass ein solcher Körperbehinderter die Leistungsfähigkeit
seiner Physis austesten will und dass Menschen die Willenskraft, mit der solche Leistungen hervorgebracht werden,
bewundern, ist verständlich.
Man muss sich aber auch darüber klar sein, dass
Leistungssport von Behinderten demselben Leistungsdenken gehorcht, das unsere
gesamte moderne Welt prägt und das mit seiner darwinistischen Selektion der
Stärksten dem Ziel einer umfassenden Akzeptanz Behinderter diametral
entgegengesetzt ist. So wird im Behindertensport die Chance nicht wahrgenommen,
aus dem Faktum des Behindertseins die Abkehr vom Leistungsdenken hin zu einer
neuen Lebensorientierung zu vollziehen.
Deshalb ist auch die
Begeisterung für die Paralympics keineswegs der eingangs beschworene Ausdruck
einer neuen Humanität. Diese Begeisterung gehorcht einfach nur dem
Leistungsdenken und dem Rekordwahn des normalen Sports und vermischt sich mit
der ohne große Mühe zu erzeugenden Toleranz gegenüber Körperbehinderung. Denn von
allen Behinderungsformen ist die Körperbehinderung diejenige, die die kleinsten
Akzeptanzprobleme mit sich bringt. Eine körperliche Behinderung ist im Grunde
nichts, das den Betroffenen fremd erscheinen läßt – ein physischer Defekt, der
keine oder wenig Auswirkung auf Psyche
und Verhalten hat und den der „normale“ Gesunde ohne weiteres verstehen kann.
Alle anderen Behinderungen, vor allem diejenigen, die
angeboren sind, gehören zu einer komplett anderen Kategorie. Sie betreffen den
ganzen Menschen, seine Sprache, sein Verhalten, sein Aussehen, und machen ihn
so in den Augen Gesunder, die zumeist nichts wissen von solchen Behinderungen,
zu etwas, das fremd, unverständlich, merkwürdig oder gar unheimlich erscheint. Das Fremde aber, das man nicht
versteht, wird abgelehnt.
So ist es logisch, dass gleichzeitig mit den Paralympics und
der zur Schau gestellten Toleranz gegenüber körperbehinderten Sportlern der
Bluttest auf Down-Syndrom in Deutschland zugelassen wurde. Und es ist ferner
konsequent, dass die sozialen Leistungen für Behinderte immer weiter abgebaut
werden (neuestes Beispiel: die bisherige Gebührenbefreiung Schwerbehinderter
für Rundfunk und Fernsehen wird jetzt abgeschafft; älteres Beispiel: schon seit
längerem werden einkommenslose Behinderte an den Zuzahlungen zu
Kassenleistungen beteiligt).
Körperbehinderte Sportler, die dem gleichen Leistungsdenken
huldigen wie alle? „Ja gern.“
Geistig Behinderte, die „anders“ sind, die niemals etwas
leisten, etwas haben, etwas darstellen werden, und die darüber hinaus im
Bildungssystem enorme Kosten verursachen? „Nein danke.“
Dass dennoch die vielgepriesene „Inklusion“ an Regelschulen
zaghaft angefangen hat, wäre eigentlich ein positives Zeichen. Denn nur mit der
frühzeitigen Integration behinderter Kinder ließe sich die Fremdheit und die
Scheu gegenüber nicht nur körperlich Behinderten abbauen, und mehr noch,
bestünde die Chance für die gesunden Kinder, den Reichtum an Lebensfreude und an Liebe zum Leben, den schwerbehinderte
Menschen so oft haben, kennen und lieben zu lernen.
Soll die Inklusion an Schulen aber gelingen, wird sie Geld
kosten, sehr viel Geld; nur mit gutem Willen ist es hier nicht getan. Man
braucht Sonderschullehrer, Therapeuten, Therapieräume, Pfleger und Betreuer,
und das sind dauerhafte Kosten in gewaltiger Höhe, die unser Staat aufzubringen
nicht bereit sein wird. Dieser Staat baut im Gegenteil die Sozialleistungen für
Behinderte ab und erleichtert die
Abtreibung behinderter Kinder.
Solange dies so ist, wird es in Deutschland keine echte
Inklusion geben.
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