Haben Sie Probleme mit ihren Zähnen? Dann machen Sie doch einfach mal eine "Individualprophylaxe" bei ihrem Zahnarzt. Die wird nämlich von der Krankenkasse bezahlt, im Gegensatz zu einer professionellen Zahnreinigung. Diese ist neuerdings besonders teuer, wenn Sie noch viele Zähne Ihr eigen nennen - früher mußte man nur die Arbeitszeit des Zahntechnikers bezahlen, heute wird der Tarif nach der Anzahl Ihrer Zähne berechnet; Sie werden also quasi dafür bestraft, dass Sie aufgrund guter Pflege noch ein intaktes Gebiss besitzen.
Aber das nur am Rande. Mir geht es heute um die sogenannte Individualprophylaxe als eine Vorbeugungsmaßnahme, die von der Kasse schwerbehinderten Patienten als Alternative zur professionellen Zahnreinigung angedient wird. Hintergrund: Ich hatte für meine motorisch schwerstbehinderte Tochter Clara bei der DAK einen Antrag auf Kostenerstattung der einmal jährlich durchgeführten professionellen Zahnreinigung gestellt, der abgelehnt wurde. Als Begründung für die Ablehnung verwies man mich auf die "Individualprophylaxe beim Zahnarzt".
Diese Individualprophylaxe nun ist so absurd, dass ich mir den folgenden Kommentar an die DAK gestattet habe:
Sehr geehrte Damen und Herren,
[....] die sogenannte Individualprophylaxe beim
Zahnarzt, die mir am Telefon als
Alternative zur professionellen Zahnreinigung vorgeschlagen worden war
und von der DAK einmal jährlich bezahlt
wird, [...] enthält die folgenden Punkte
1) den Befund des Zahnfleisches
2) die Aufklärung über Krankheitsursachen und ihre Vermeidung
3) das Erstellen von diagnostischen Vergleichen zur
Mundhygiene, zum Zustand des Zahnfleisches und zur Anfälligkeit gegenüber
Karieserkrankungen
4) die Motivation und Einweisung bei der Mundpflege.
Ich lasse, wenngleich ungern, dahingestellt, ob diese
Maßnahmen bei einem gesunden, nicht behinderten Patienten ebenso sinnvoll wären
wie eine professionelle Zahnreinigung, geschweige ob sie einen Kariesbefall des
Gebisses ebenso effektiv verhindern könnten. Es dürfte aber evident sein, auch
für Mitarbeiter der DAK, dass alle diese - vielleicht ja gutgemeinten – Aufklärungsmaßnahmen
bei einem schwerbehinderten Patienten, der seine Hände nicht benutzen kann, dermaßen
hirnverbrannt sinnlos sind, dass man sie ohne Übertreibung als Realsatire
bezeichnen kann. Dies trifft im übrigen keinswegs nur auf Körperbehinderte zu,
sondern auch auf Menschen mit geistiger
Behinderung.
Was soll meine Tochter mit dem „Befund des Zahnfleisches“
denn anfangen? Soll sie ergeben nicken, wenn der Zahnarzt ihr mitteilt, dass
ihr Zahnfleisch optimal/suboptimal/behandlungsbedürftig sei? Hilft ihr diese
Mitteilung bei aktiver Prophylaxe, die sie aufgrund ihrer Behinderung nicht
durchführen kann?
Und was nützt ihr die - noch so eloquente -Aufklärung
über „Krankheitsursachen und ihre
Vermeidung“? Soll sie das nächstemal, wenn ihr ein Stück Kuchen von einer
Freundin angeboten wird, sagen, dass sie dies
nicht wolle, da es ihrer Zahngesundheit nicht zuträglich sei? Sie wird
auch trotz noch so intensiver Aufklärung über die Vermeidung von
zahnschädigenden Nahrungsmitteln nicht selbst ihre Zähne nach einer „süßen
Sünde“ reinigen können.
Vollends absurd wird dieser fabelhafte Leistungskatalog bei Punkt drei. Das Erstellen von
„diagnostischen Vergleichen zur Mundhygiene“ etc.pp. klingt zwar bombastisch
und beeindruckt möglicherweise Dr. Lieschen Müller; es verleiht jedoch dem motorisch
oder geistig behinderten Patienten mitnichten irgendwelche wundersamen
Fähigkeiten, die ihn in den Stand setzen würden, aktiv Mundhygiene zu
betreiben.
Punkt vier liefert
dann mit der „Motivation und Einweisung bei der Mundpflege“ die nicht
mehr steigerungsfähige Apotheose der Absurdität. Ich wäre gern persönlich dabei
anwesend, wenn ein - natürlich
„hochmotivierter“ - Zahnarzt versucht, meine Tochter, die zu 100% motorisch
behindert ist, zum Zähneputzen zu „motivieren“ und sie bei der „Mundpflege“
„einzuweisen“. Es wäre, abgesehen davon, dass meine Tochter (die allerdings
glücklicherweise sehr viel Humor besitzt) derlei Zumutungen auch als zynisch
oder degradierend empfinden könnte, eine hochkomische Szene, die man filmen und
bei Youtube veröffentlichen sollte.
ES ist grotesk, dass die DAK diese ganze Prozedur namens „Individual-Prophylaxe“
mit dem Zusatz „Individual“ kennzeichnet. Was, bitteschön, ist denn individuell
an dieser Prophylaxe, wenn individuelle gesundheitliche Grundvoraussetzungen des
Patienten, wie eine schwere
Körperbehinderung, nicht berücksichtigt werden?
Man sollte in der Tat – und das meine ich nicht ironisch - diese superbe „Individualprophylaxe“, die
sich vermutlich ein weltfremder Marketing-Experte ausgedacht hat, einmal
mit einem Zahnarzt und einem schwer motorisch
oder geistig behinderten Patienten filmen, um die ganze Absurdität und die hanebüchene Beschränktheit, um nicht zu
sagen, den blanken Zynismus solcher Vorschläge
in Hinblick auf Schwerbehinderte bloßzustellen.
Fazit: Das Geld, das für die komplett sinnlose
„Individualprophylaxe“ ausgegeben wird, könnte man sparen und sinnvoll für eine
professionelle Zahnreinigung als Kassenleistung für Schwerbehinderte einsetzen.
Da es sich hier um einen keineswegs unüberschaubar großen Personenkreis
handelt, wären die Kosten von jeweils ca. 65
Euro pro Patient mit Sicherheit nicht so exorbitant, dass sie den gut
gefüllten Geldtopf der gesetzlichen Krankenkassen in unverantwortlicher Weise
leeren würden. Es wäre eine Maßnahme, die ganz real die Zahngesundheit von
Behinderten verbessern und belastende komplexe Zahnbehandlungen mit erheblichem
Kostenfaktor wirksam reduzieren würde.
Es ist weder
verstehbar noch rational erklärbar, wieso die Krankenkassen hier nicht
ein für allemal nachbessern und warum Anträge wie der von mir seinerzeit
gestellte auf Kostenübernahme der Zahnreinigung nicht bewilligt werden. Wo
liegen also die Gründe für diese Politik?
Ich vermute, dass es zum einen am behindertenfeindlichen
Klima der Bundesrepublik Deutschland liegt, in der behinderte Föten noch bis
kurz vor der Geburt abgetrieben werden dürfen. Leider haben Behinderte in
unserem Land keine wirkmächtige Lobby und keine prominenten Fürsprecher.
Zum anderen ist hier die nur noch an den Kosten orientierte
Politik der Krankenkassen zu nennen. Nicht die medizinische Effektivität einer
Behandlung ist entscheidend, sondern deren Kostenintensität. Und die Messlatte für die „Kostenintensität“ liegt
eben bei Behinderten, die ja unverschämterweise ohnehin schon hohe Kosten
machen, für alle nicht dringend
erforderlichen medizinischen Leistungen sehr niedrig.
Ich frage mich, ob es noch Entscheidungsträger im
Gesundheitswesen gibt, die bereit wären,
hier etwas zu ändern.
Mit freundlichen Grüßen
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