Sonntag, 4. November 2007

Eheszenen, I

Im Wartezimmer einer physiotherapeutischen Praxis. Ein älterer Herr, der zunächst draußen an den Stufen zum Eingang gestanden hat, beschließt der kühlen Herbstluft wegen drinnen weiter zu warten. Es ist offensichtlich, er will nicht selbst behandelt werden, sondern jemanden abholen.
Schließlich wird die Tür eines Behandlungszimmers geöffnet, es erscheint eine reizende ältere Dame, auf zwei Krücken gestützt. Sie lächelt den Herrn hinreißend charmant an.
"Ach, du bist schon da? Und ich wollte gerade draußen ein bißchen spazierengehen."
Der Herr verzieht keine Miene. Er murmelt: "Kannst du gerne tun."
Die Dame sagt nichts, sondern zieht ihren Mantel an.
"Bist du fertig?" sagt der Herr.
Sie nickt. Er hilft ihr beim Rausgehen.
"Ach, es geht schon", sagt sie, und er hält ihr die Tür auf.

Netter und harmloser Dialog? Hm.
Ich höre den folgenden Subtext.
"Du bist schon da? Und ich wollte gerade... Erstaunlich, daß du ausnahmsweise mal pünktlich bist. Bist du ja eigentlich nie, deswegen war ich auch schon voll darauf eingestellt, draußen noch mindestens eine Viertelstunde herumspazieren zu müssen."
"Kannst du gern tun. Du bist ja sowieso nie dankbar, wenn ich dir helfe. Humpel halt draußen rum, solange du willst, wenn's Dir Spaß macht. Ich weiß wirklich nicht, warum ich dich überhaupt abhole, wenn du sowieso noch herumspazieren möchtest. Klar, hab schon verstanden, daß du mir meine Unpünktlichkeit reinreiben willst. Aber du könntest wirklich auch mal ein bißchen dankbar sein, anstatt hier die charmante Dame zu spielen und mir mit deinem ach so liebenswürdigen Lächeln mal wieder eine Ohrfeige zu verpassen."
"Ach, es geht schon. Ich brauche deine Hilfe eigentlich gar nicht, du muffeliger Kerl. Das heißt, leider doch, zumindest bei der Treppe. Schrecklich, wenn man auf Hilfe angewiesen ist. Aber ich werde ihm nicht den Gefallen tun, Schwäche zu zeigen. Darauf wartet er ja nur."

Wird in losen Folgen fortgesetzt

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